Auf der norwegischen Insel Utøya fielen am 22.Juli 2011 69 Menschen dem Attentat des Rechtsextremisten Anders Behring Breivik zum Opfer – viele von ihnen Jugendliche. Die schrecklichen Szenen sind ab dem 20. September in „Utøya 22. Juli“ in den deutschen Kinos zu sehen. Doch ist es nicht zu früh, darüber jetzt schon einen Spielfilm zu drehen? Und was denken eigentlich die Angehörigen der Opfer darüber? Darüber habe ich mit der 20-jährigen Hauptdarstellerin Andrea Berntzen unterhalten, die sich erstaunlich viele Gedanken zu diese Fragen gemacht hat.
Nach über sieben Jahren kämpfen die Überlebenden und Angehörigen noch immer damit, das Erlebte zu verarbeiten. Der Spielfilm „Utøya 22. Juli“ soll ihnen dabei helfen und für alle anderen spürbar machen, wie schrecklich es für die Jugendlichen auf der Insel gewesen sein muss. Eine 72-minütigen Plansequenz ohne Schnitte soll das Attentat auf Utøya Kinobesuchern in Echtzeit aus der Perspektive von Kaja (Andrea Berntzen) miterleben lassen.
Der Trailer vermittelt bereits die bedrückende Atmosphäre des Films:
desired: Nachdem ich den Film gesehen hatte, war ich sehr niedergeschlagen und konnte nicht sofort darüber reden. Das war doch für dich bei den Dreharbeiten und den Vorbereitungen bestimmt auch hart, dich für eine längere Zeit mit diesem furchtbaren Ereignis zu beschäftigen. Wie bist du persönlich damit umgegangen?
Andrea Berntzen: Am Anfang war das wirklich hart. Um uns auf die Dreharbeiten vorzubereiten, haben wir uns mit Überlebenden getroffen und ich habe mir Dokus und Youtube-Videos über den Anschlag angeschaut. Ich wusste natürlich über die Geschehnisse auf Utøya, aber ich war damals noch sehr jung [Anm. d. Red.: 13 Jahre alt]. Ich war noch nicht reif genug, um zu verstehen, dass dort Individuen getötet wurden.
Das hat mich wirklich berührt, als ich realisiert habe, dass das genauso mich, meine Freunde oder Familienmitglieder hätte treffen können. Nach manchen Drehtagen bin ich ins Hotel gegangen und musste meine Freunde oder Familie anrufen und ihnen von meinen Gedanken und Eindrücken erzählen.
Am Set wurdet ihr auch von Psychologen betreut. Brauchtest du diese professionelle Hilfe?
Während der Dreharbeiten nicht, aber es war trotzdem beruhigend, dass sie da waren. Als der Film dann im Kasten war, hatte ich Zeit über all das nachzudenken. In mir wuchs ein großes Schuldgefühl.
Ich hatte große Angst, dass dieser Film mehr schaden könnte, als den Hinterbliebenen Trost zu spenden.
An diesem Punkt musste ich mit Psychologen sprechen. Außerdem habe ich mit Überlebenden gesprochen. Es war sehr beruhigend zu hören, dass sie den Film unterstützen und dass sie denken, dass er den richtigen Ton getroffen hat. Das war für mich das Wichtigste.
Der Film wurde ja in einer einzigen Kameraeinstellung aufgenommen. Welcher Teil davon war für dich am schwierigsten zu spielen?
Auf jeden Fall der letzte Teil, wo ich sehe, wie alle tot um mich herum auf dem Boden liegen. Das ist der Höhepunkt der Tortur und hat am meisten Kraft gekostet. Allerdings hatte ich an diesem Punkt kaum noch Energie, weil ich vorher gerannt bin.
Aber auch die ersten 15 Minuten waren hart. Hier mussten wir ja nur normale Teenager spielen, die Spaß haben, was nicht schwer sein sollte. Ich weiß aber genau, dass sobald Peter im Film mit mir flirtet, es nur noch 10 Sekunden dauert, bis der erste Schuss fällt. Da muss ich auf einmal von fröhlich auf ängstlich umschalten – und das innerhalb von Sekunden, weil alles in einer Einstellung gedreht wurde.
Glaubst du, dass Menschen durch diesen Film eher Mitgefühl für die Opfer und Angehörigen entwickeln können als wenn sie eine Dokumentation darüber sehen?
Dokumentationen nehmen erst mal nur die Fakten und ordnen sie ein. Mit diesem Film kannst du das Attentat miterleben, auch wenn du es nicht vollkommen verstehen wirst. Aber du hast es direkt vor Augen. Ich hoffe es zumindest. Ich habe auf Social Media Nachrichten von Überlebenden bekommen, die froh darüber sind, jetzt einen Film zu haben, der das schildert, was sie erlebt haben. Wenn sie gefragt wurden, wie es auf Utøya war, können sie nicht auf eine Doku verweisen, weil das eher distanziert wirkt. Durch den Film kann man besser nachempfinden, wie schlimm das für die Jugendlichen war – natürlich nur bis zu einem gewissen Grad.
Ich habe gelesen, dass du der Verfilmung zunächst selbst kritisch gegenüber standest. Was hat schließlich deine Meinung verändert?
Ja, ich war anfangs skeptisch. Dabei war es nicht die Tatsache, dass Utøya thematisiert wurde. Ich stimme mit Erik überein, dass es Zeit ist, den Fokus zurück auf die Opfer zu legen und nicht auf den Täter. Als ich dann las, wie der Film konzipiert ist, habe ich verstanden, dass es nicht die Frage ist, ob man einen Film über Utøya macht, sondern wie. Ich las darüber, wie und warum Erik [Anm. d. Red.: Regisseur Erik Poppe] den Film drehen wollte und das erschien mir alles sehr logisch und respektvoll gegenüber den Opfern. Das war mir sehr wichtig.
Ich stand dem Film ehrlich gesagt auch sehr kritisch gegenüber. Auf der einen Seite möchte ich verstehen, wie schrecklich dieses Attentat war und auf der anderen Seite fühlt es sich komisch an, sich das zur Unterhaltung in einem Kino anzuschauen. Auch ein bisschen sensationalistisch…
Das stimmt. Ich habe den Film selbst nicht auf DVD bekommen, sondern musste ihn mir im Kino ansehen. Das war ja auch mein erster Film und ich war aufgeregt, ihn zu sehen. Ich habe ihn mir mehrfach im Kino mit Freunden angesehen. Jedes Mal habe ich dabei die Beobachtung gemacht, dass in den ersten 15 Minuten noch jeder isst und trinkt. Sobald dann aber die Schüsse fallen, verstummen die Geräusche im Saal. Ab dann ist es nicht mehr nur eine cineastische Erfahrung, sondern wird fast real. Ich kann deine Gedanken nachvollziehen.
Man schaut diesen Film aber nicht zur Unterhaltung, sondern um sich daran zu erinnern. Es ist daher also eher eine Art Denkmal für den 22.Juli.
Unmittelbar nach dem Film habe ich überhaupt nicht über Anders Breivik oder Rechtsextremismus nachgedacht, sondern war mit meinen Gedanken ganz bei den Opfern und Angehörigen. Dabei werden im Abspann des Film Informationen über Rechtsextremismus in Europa eingeblendet. Glaubst du, der Film schafft es, eine Debatte darüber auszulösen?
Das hat er in Norwegen und anderen skandinavischen Ländern bereits! Das ist auch sehr wichtig. Wir wissen genau, wer der Attentäter war, warum er es getan hat und, dass er es über mehrere Jahre hinweg geplant hat.
Der Film liefert aber eine neue Perspektive. Er kann aufzeigen, wohin Rechtsextremismus führen kann, wenn er nicht rechtzeitig gestoppt wird.
Erik sagte, dass Rechtsextremisten Menschen sind, denen wir nicht zuhören. Deswegen haben sie das Gefühl, zu solchen Mitteln greifen müssen, um gehört zu werden. Wir sollten uns mit ihnen zusammensetzen und ihnen zuhören. Nicht, um mit ihnen zu übereinstimmen, aber, um ihnen das Gefühl zu geben, dass ihnen jemand zuhört, um zu verhindern, dass sie gewalttätig werden.
Netflix wird am 10. Oktober diesen Jahres auch einen Spielfilm über Utøya herausbringen, der sich mehr auf Anders Breivik konzentrieren wird. Findest du, dass man ihm lieber keine Bühne geben sollte?
Nein, überhaupt nicht! Die Zuschauer von „Utøya 22. Juli“ werden nach dem Film so viele offene Fragen haben. In Norwegen ist auch eine Serie über das Attentat in Planung und sogar noch ein weiteres Filmprojekt. Ich hoffe, dass sie alle unterschiedliche Perspektiven zeigen können, sodass am Ende ein Gesamtbild entsteht, wir besser verstehen und nachempfinden können, was die Opfer durchgemacht haben.
Hier kannst du dir den Trailer zum Netflix-Film „22. Juli“ ansehen, der eine ganz andere Herangehensweise hat:
Das überrascht mich, dass du das so siehst. Ich habe gelesen, dass Erik Poppe in diesem Film Anders Breivik bewusst keine Bühne bieten wollte. Man sieht ihn ja nur schemenhaft für wenige Sekunden. Muss man den Attentäter nicht auch sehen, um die Geschehnisse authentisch darzustellen?
Die Drehbuchautoren haben etwa 40 Überlebende interviewt. Manche von ihnen waren Anders Breivik näher als andere. Wir können die Geschichten derer, die Anders Breivik direkt gegenüber standen nicht mehr hören. Die meisten haben ihn nicht gesehen, alle haben ihn jedoch gehört. Es ging darum, die Geschehnisse in Echtzeit darzustellen. Wir wissen jetzt, dass es nur ein Mann in einer Fake-Polizeiuniform war. Die Betroffenen auf der Insel wussten das nicht: Sie haben überall Schüsse gehört. Viele Überlebende haben uns erzählt, dass sie dachten, dass eine ganze Gruppe das Attentat verübt.
Vielen Dank für das interessante Interview, Andrea!
Bildquelle: © Agnete Brun