Wenn Carsten Stahl einen Raum voller Schüler betritt und seine Geschichte erzählt, kann man eine Stecknadel fallen hören! Denn er war nicht nur Mobbing-Opfer, sondern auch Täter und Krimineller. Seine kriminelle Vergangenheit hat Stahl, auch bekannt aus der RTL II-Sendung „Privatdetektive im Einsatz“, längst hinter sich gelassen, jetzt setzt sich er sich deutschlandweit für Gerechtigkeit und Toleranz unter Schülern ein.
In seiner neuen RTL II-Sendung „Stahl:hart gegen Mobbing“, die Montag startete, besucht er Schulen und führt dort einen Dialog mit Tätern und Opfer zugleich. Denn das Wichtigste für ihn: Mobbing darf nicht mehr verschwiegen werden! Wir haben Carsten Stahl in Berlin getroffen, mit ihm darüber gesprochen, warum ihm das Thema Mobbing so am Herzen liegt und wie man handeln muss, wenn man betroffen ist.
desired: Gestern lief deine Doku ‚Camp Stahl‘ bei RTL II an, in der du auf das Thema Mobbing aufmerksam machen willst. Warum ist dir dieses Thema so wichtig?
Carsten Stahl: Es ist mir deshalb so wichtig, weil ich selber Vater von zwei kleinen Kindern bin. Meine Tochter ist sieben, mein Junge ist zehn. Und mein eigener Sohn wurde, als er sechs Jahre alt war, nach zwei Tagen Grundschule Opfer von Gewalt und Mobbing. Nur weil er der Neue war oder warum auch immer. Denn jeder kann Opfer von Mobbing werden.
Wie hast du davon erfahren?
Er kam nach Hause und lag dann weinend in meinen Armen. Er hat mich unter Angst angefleht, ihn nicht wieder dahin zu schicken. Und da wurde ich an jemanden erinnert. Nämlich an mich, als ich zehn Jahre alt war. Damals wurde ich von einer Gruppe regelmäßig verprügelt, geschlagen, getreten, gedemütigt, beleidigt. Die haben mich sogar mal in eine drei Meter tiefe Grube geschubst. Ich habe mir die Rippen gebrochen, den Kopf aufgeschlagen. Ich lag dort, kaum Luft bekommend, es war schon fast dunkel. Und dann haben sie sich zu fünft nicht nur um die Grube gestellt und mich ausgelacht, sie haben mich auch angepinkelt.
Was hast du damals gefühlt?
Man fühlt sich hilflos, wehrlos, erniedrigt, gedemütigt, zerstört, zerbrochen. Umso jünger du bist, umso weniger kannst du das verarbeiten. Denn umso mehr hat das Einfluss auf deine Zukunft. Unser Charakter bildet sich in den ersten Jahren und je mehr negative Erfahrungen du machst, desto mehr setzt sich das auf deiner Seele fest. Ich war damals zehn Jahre alt. Was das mit meiner Seele und meinem Selbstwertgefühl gemacht hat, kann man sich vorstellen. Ich hatte Selbstmord-Gedanken.
Du hast damals geschwiegen, nicht mit deinen Eltern über diese Vorfälle geredet. Warum nicht?
Weil die, die mich gemobbt haben, mir gesagt haben: ‚Wenn du das tust, wird es schlimmer! Wir schneiden deiner Mutter die Kehle durch!‘ Die haben mich so sehr bedroht und mir Angst gemacht, dass ich weder mit meinen Eltern noch mit meinen Lehrern darüber geredet habe. Ich dachte, dass dann alles noch viel schlimmer wird. Und genau darin liegt der Fehler.
Dein Sohn hat sich dir ja zum Glück sofort anvertraut. Was glaubst du, woran das lag?
Weil ich von Anfang an alles richtig gemacht habe.
Was genau heißt das? Was müssen Eltern machen, damit Kinder sich ihnen anvertrauen?
Zuhören! Das Entscheidendste ist, seinen Kindern zuzuhören. Meine Eltern waren zum Beispiel sehr busy und haben nie zugehört. Ich habe schon mal ein Kind verloren. Als ich 24 Jahre alt war und weil ich kriminell war. Und deshalb habe ich mir geschworen, dass mir das nie wieder passieren wird. Ich habe meinen Kindern von klein auf beigebracht, dass sie mir vertrauen können.
Was hast du empfunden, als dein Sohn dir weinend von seinen Problemen erzählt hat?
Hilflosigkeit und Wut. Man fragt sich: Warum machen diese Kinder das? Aber ich war erst Opfer und dann Täter. Ich weiß, warum diese Jungs das tun!
Warum?
Sie waren selber Opfer und sind dann irgendwann zu Tätern und Mit-Tätern geworden. Sie sind Opfer des Systems. Weil einfach alle wegschauen und niemand für Prävention sorgt. Das war bei mir damals schon so und es hat sich nichts, aber wirklich gar nichts in den letzten 35 Jahren daran geändert hat.
Wie hast du reagiert, um deinem Sohn helfen zu können?
Das Schlimmste ist, wenn Eltern in ihrer Wut agieren, zur Schule fahren und die Kinder beispielsweise schütteln. Das ist der absolut falsche Weg. Ich habe mich an den Direktor gewendet und habe dann jedoch merken müssen, wie diese Schule damit umgeht. Sie haben die Situationen runtergespielt. Sie haben die Schuld umgekehrt. Im Sinne von: ‚Wir gucken erstmal, was Ihr Sohn gemacht hat.‘ Ohne zu wissen, wer mein Sohn ist oder wie lange er schon an der Schule ist. Aber Schweigen ist halt einfacher als zu handeln. Die Politik möchte ja kein Geld für die Prävention von Mobbing ausgeben.
Was forderst du?
Ehrlichkeit und Offenheit! Hört endlich auf, das Thema zu verschweigen. Es gibt immer noch Direktoren, Lehrer und Schulsysteme, die sagen: ‚Es ist nicht so schlimm!‘ Die verharmlosen das, sagen, dass es nur Ausnahmen sind. Jeder, der sagt, dass Mobbing kein Problem ist, lügt. Und das nur, weil sie Angst haben, als Problem-Schulen dazustehen. Es gibt aber keine Problem-Schulen, es gibt ein Problem in der Gesellschaft. Deshalb habe ich meinem Sohn versprochen, dass Mobbing endlich ernst genommen wird. Und ich fülle mittlerweile ganze Hallen gegen Mobbing. Tendenz stark steigend. Weil sich sonst keiner traut, offen darüber zu reden. Denn man schafft sich damit auch Feinde, weil es ein Tabu-Thema ist.
Glaubst du, dass Mobbing heutzutage schlimmer ist als früher?
Ja, es ist schlimmer geworden. Jeden zweiten Tag bringt sich ein Teenager wegen Mobbing um. Jeden zweiten Tag! Es gibt 500.000 bis eine Million Fälle von Mobbing und Ausgrenzung jede Woche.
Was ist der Grund für die stark steigende Tendenz?
Meiner Meinung nach liegt es am Smartphone: Cyber-Mobbing nennt man das. Die Kinder müssen heutzutage nur noch auf einen Knopf drücken, um Dinge oder Lügen über einen Mitschüler zu verbreiten. Innerhalb weniger Sekunden verbreiten sich Gerüchte, sodass die ganze Schule Bescheid weiß. Das ist leider die Zukunft und genau das erwartet deine Kinder, wenn wir nicht endlich handeln.
Wir wissen ja alle, das Kinder manchmal auch fies sein können, ohne zu mobben. Dann fällt man ein blöder Spruch oder es wird gestritten. Wie erkenne ich denn, ob jemand gemobbt wird?
Im Grundgesetz heißt es: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Nur du selber entscheidest darüber, wann die Grenze überschritten ist. Mal angenommen, jemand macht in einer Gruppe einen Witz über dich. Alle lachen. Du findest es nicht lustig, sondern unnötig. Aus Verlegenheit lachst du aber mit. Dann war das erstmal nur ein blöder Spruch, noch kein Mobbing. In dem Moment hättest du aber eigentlich schon sagen müssen, dass du das nicht willst. Jetzt hat diese Person aber gemerkt, dass der Spruch gut ankam, denn alle haben gelacht. Damit tankt diese Person Energie von den Mittätern. Also lässt die Person immer wieder Sprüche ab, die dich verletzen. Und alle steigen wieder mit einem Lachen ein. Und schon ist es Mobbing. Mobbing ist ein Geschwür unserer Gesellschaft. Erst ist es klein und man kann es noch beheben. Doch wenn es zu groß wird, ist es zu spät. Und man findet Mobbing nicht nur an Schulen, sondern auch unter Erwachsenen, in Betrieben aller Art. Und ich habe einen Ansatz gegen Mobbing gefunden, der funktioniert.
Genau, deine Doku. Wie gehst du vor, um Kinder über Mobbing aufzuklären?
Ich besuche Schulen. Dort rede ich auf Augenhöhe mit ihnen.
Du redest mit Opfern und Tätern gleichzeitig. Wie bringt man diese Gruppe zusammen?
Ich bringe sie zusammen, denn ich bin Opfer und Täter in einem. Und ich sage den Kindern genau das. Dass ich einer von ihnen bin. Ich bin zwar kein ausgebildeter Psychologe, aber ich habe beide Seiten erlebt. Und erkläre ihnen, dass sowohl Opfer als auch Täter ähnliche Dinge erlebt haben. Dass es okay ist, ein Opfer gewesen zu sein. Und ich auch verstehe, warum man zum Täter wird. Aber das alles jetzt endlich aufhören muss. Ich bin vom Opfer, zum Mittäter, zum Täter, zum Kriminellen geworden. Das kann man nämlich als nächstes werden. Nicht alle, aber viele. Die Kinder wollen spüren, dass ich weiß, wovon ich rede. Deshalb hören sie mir zu, ich bin ein Vorbild.
Apropos Vorbild: Sollten sich deiner Meinung nach mehr Promis für das Thema einsetzen?
Definitiv! Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass Legenden wie Manuel Neuer auch gegen Mobbing werben würden.
Welche Tipps gibst du Opfern gezielt mit auf den Weg?
Als allersterstes: Macht nicht den Fehler, den ich auch gemacht habe. Habt sofort den Mut laut zu sagen: ‚STOPP! Ich will das nicht‘, wenn euch irgendwas nicht passt. Ihr müsst Sätze sagen wie: ‚Das machst du nicht mit mir, ich bin lebendig.‘ Dann merken die Täter, dass ihr da seid. Ihr eine Stimme habt. Wenn es sich wiederholt, müsst ihr Hilfe suchen, euch an eure Lehrer und Eltern wenden. Erzählt ihnen, was passiert, denn nur so können sie euch helfen. Ihr, liebe Eltern, müsst euch sofort an die Schulen wenden. Wenn die davon nichts wissen wollen, wendet euch an das Schulamt.
Für RTL II hast du Schulen bundesweit besucht, mit ihnen über Mobbing und die Auswirkungen geredet! Was nimmst du aus dieser Zeit mit?
Ich kann euch sagen: Legt euch Taschentücher hin, wenn ihr die Sendung schaut. Ich habe dabei geweint. Wenn Kinder dir erzählen, wie hilflos sie sind, wie alle wegschauen, dass sie Selbstmord-Gedanken haben, dann kannst du nicht mehr. Das macht einen fertig. Umso mehr möchte ich allen da draußen zeigen, wie schlimm Mobbing wirklich ist. Denn dann müssen Politiker und Lehrer reagieren und etwas verändern.
Wie ist die Stimmung, wenn du in einem Raum voller Schülern deine Geschichte erzählst?
Wenn ich meine Geschichte vor 1.000 Schülern erzähle, kann man eine Stecknadel fallen hören kann. Es ist still und sie schlucken. Danach kommen viele zu mir: Sie wollen gedrückt werden oder bedanken sich.
Du interessierst dich für die Stahl-Sendung? Die zweite Folge von „Stahl:hart gegen Mobbing“ läuft am Montag, 16.04.2018 um 20:15 Uhr auf RTL II.
Bildquelle: RTL II