RTL+ hat eine neue Serie: „Angemessen Angry“ – und wenn ich könnte, würde ich hier am liebsten jede einzelne Szene im Detail zitieren. Nicht nur, weil sie unglaublich besonders inszeniert sind, sondern weil in ihnen so viel traurige Realität steckt. Eine Realität, die etliche Frauen erleben. In „Angemessen Angry“ geht es nämlich um sexualisierte Gewalt. Um genau zu sein, um Amelie, die von einem Kerl während der Arbeit vergewaltigt wird. Doch jetzt kommt der Clou: Nach der Tat entwickelt Amelie Superkräfte, mit denen sie Sexualstraftäter aufspüren kann – und beginnt fortan einen persönlichen Rachefeldzug. Eine Story, die dich auch Tage später noch aufrütteln wird …
Geschichten über Superhelden kennen wir viele. Sie alle beginnen mit einem Trauma. So auch Amelies Geschichte. Die Geschichte von etlichen Frauen weltweit. Denn dass sexualisierte Gewalt und Übergriffigkeit von Männern in unserer Gesellschaft weit verbreitet sind und sogar zunehmen, ist kein Geheimnis. Gerade erst veröffentlichte das BKA ein neues Lagebild zu geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichteten Straftaten – mit erschreckenden Zahlen. Demnach gab es 2023 52.330 weibliche Opfer von Sexualstraftaten in Deutschland. Das sind 6,2 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Aus dieser Realität macht auch „Angemessen Angry“ keinen Hehl. Im Gegenteil. Schon in den ersten Minuten der Serie fragt Amelie, die übrigens SO krass genial von „Die Discounter“-Star Marie Bloching gespielt wird, ganz provokant in die Kamera: „Was wäre ein Held, wenn sein Trauma einfach zu seinem Alltag gehören würde?“ Ihre Antwort: „Ein Niemand. Oder schlimmer: eine Frau“.
Wie genau dieser Alltag wirklich aussehen kann, wird mit jeder weiteren Szene deutlich – ohne dabei aber zu explizit zu werden. Denn auch als ein aufdringlicher Hotelgast Amelie, die als Zimmermädchen arbeitet, in den Personalraum folgt, sieht man von der eigentlichen Tat nichts. Doch das muss man auch nicht, um zu verstehen, dass dieser eine schreckliche Moment Amelies Leben für immer verändern wird. In ihrem Fall sogar gleich im doppelten Sinne. Denn während im Hintergrund parallel nur mit lautem Krachen eine Mikrowelle explodiert und Sekunden später kleine Adern auf Amelies Haut aufblitzen, weiß man: Ihre Superkraft wurde gerade entfacht.
Nur ahnt Amelie davon erstmal noch nichts. Zu benommen ist sie von dem Erlebten – bis sie sich irgendwann ihrem besten Freund (Bless Amada) anvertraut. Seine Reaktion? Nachdem er heulend auf ihrem Schoß zusammenbricht? „Hast du schon Anzeige erstattet?“ Amelie schaut daraufhin nur genervt ins Leere und plötzlich fliegen einem verschiedene Schlagzeilen – echte Schlagzeilen – entgegen, in denen darüber berichtet wird, dass wieder irgendwelche Ermittlungen gegen beschuldigte Promi-Männer eingestellt wurden. Und schon diese Szene gehört zu den Momenten, die die Serie so wahnsinnig gut machen – weil sie dich sofort in die Realität zurückholen, wo eben genau das alles wirklich stattfindet. Wo sexuelle Übergriffe ständig passieren – in einer Häufigkeit, die Angst macht.
Das zeigt auch „Angemessen Angry“ mit jeder weiteren Szene. Denn nachdem sich Amelie doch dazu entscheidet zur Polizei zu gehen und ihr einer der Beamten eine Hand auf den Arm legt, schießt ihr plötzlich eine Art Vision durch den Kopf, in der eben dieser Beamte eine Frau begrapscht. Ihre Superkraft ist aktiviert – und plötzlich sieht Amelie überall diese Bilder. Männer, die Frauen K.o.-Tropfen ins Glas mixen. Männer, die ohne Wissen das Kondom weglassen (auch bekannt als Stealthing). Männer, deren Hände in die Bluse oder unter den Rock einer Frau gleiten. Täter – und sie sind überall.
„Angemessen Angry“ ... zwischen Humor und Gänsehautmomenten
Und ja, diese Bilder kicken anders rein. Einem wird alleine beim Zuschauen schlecht. Erst recht, wenn man nur ein paar Szenen später Frauen sieht, die in einer Selbsthilfegruppe gezielt von ihren Missbrauchserfahrungen berichten oder auch davon, sich schuldig zu fühlen, weil sie nach ihrem Erlebnis trotzdem wieder Sex genießen können. Ein „gutes“ Opfer sieht schließlich anders aus … Diese Szenen tun weh.
Doch keine „Sorge“, dieser Ton zieht sich nicht durch die gesamte Serie – und genau das macht sie auch so besonders. Denn „Angemessen Angry“ spielt ganz bewusst auch mit humorvollen Momenten, in denen man bei all der Tragik fast schon laut lachen möchte. Und ja, einige von euch denken jetzt vielleicht, dass Humor bei so einem Thema nichts zu suchen hat. Doch Regisseurin Elsa van Damke, die selbst Opfer von sexualisierter Gewalt geworden ist, hat das Ganze im Interview mit Fluter sehr schön zusammengefasst: „Lachen als Coping-Mechanismus ist etwas, mit dem ich und meine Co-Autorin Jana Forkel uns gut auskennen. Ich glaube, der Humor und das Superheldinnenelement machen den Stoff aushaltbarer.“ Und das ist wirklich so.
Während Amelie in den nächsten Folgen also mit pinkfarbener Maske aus Ommas Kostüm-Fundus unter ihrem persönlichen Superheldinnen-Namen Hysteria mit ihrem Rachefeldzug gegen übergriffige Männer loslegt (um ihre Geständnisse online zu veröffentlichen), will man abwechselnd eigentlich nur lachen oder weinen. Und ja, vielleicht auch einfach mal vor Wut laut SCHREIEN. Zum Beispiel auch dann, wenn sich ein Vergewaltigungsprozess, den Amelie mitverfolgt, plötzlich in eine „Wer wird freigesprochen?“-Quizshow verwandelt und dort mit Fakten wie diesen um sich geschmissen wird: „Wie viele Anzeigen enden in einer Verurteilung“? Die richtige Antwort: „8 %“.
Wusstest du, dass diese Promis häusliche Gewalt erlebt haben?
Wer könnte Hysterias Wut da also nicht verstehen? Und auch wenn ihre kleinen Rachefeldzüge im Laufe der Serie etwas eskalieren (kleiner Spoiler: einige der Männer verlieren mehr als nur einen Zehennagel), versteht man ihre Wut und ihren Schmerz nur zu gut. Und ich glaube, wenn Amelie die folgenden Sätze in einem Moment rausschreit, schreit jede Zuschauerin zu Hause diese Worte innerlich mit. Ich hab’s getan: „Ich will nicht mehr hören, dass ich Selbstverteidigung lernen soll. Ich will rausgehen, ohne meinen Live-Standort teilen zu müssen. Ich will in die Sauna gehen. Ich will wieder Filme gucken. Ich will Taxi fahren. Ich will kurze Kleidung tragen. Ich will schwimmen gehen. Ich will tanzen gehen. Ich will eine fucking Nacht durchschlafen. Ich will Sex haben.“ Also JA, Amelie ist „Angemessen Angry“. Jede Frau ist es – wenn wieder ein Kerl seine Machtposition ausnutzt. Wieder ein Täter freigesprochen wird. Und die Angst weiter Teil unseres Lebens ist.
Nicht alle Männer, aber ...
Und bevor hier gleich irgendwelche Menschen laut aufschreien wollen, dass die Serie ja vielleicht doch etwas verallgemeinernd sei, zitiere ich noch einmal kurz Amelie: „Komm mir jetzt nicht mit dieser ,Nicht alle Männer‘-Scheiße“. Aber nein, mal ehrlich: Natürlich sind nicht alle Männer schuldig. Das will die Serie auch gar nicht sagen, ABER ... Und jetzt möchte ich einfach mal nur die wunderbare Ida zitieren (FOLGT IHR, ihr Account ist Balsam für die Seele und man lernt jeden Tag dazu): „Nicht alle Männer. Aber genug, damit sich keine Frau auf dem Nachhauseweg sicher fühlen kann. Nicht alle Männer, aber genug, die sich übergriffig verhalten und Frauen bewusst oder unbewusst Schaden zufügen. Nicht alle, aber genug, die wegschauen oder lieber darüber diskutieren, wie viele Männer es denn jetzt genau sind, statt zu fragen, was sie tun können.“
Und genau das ist der Punkt. „Angemessen Angry“ will sicher nicht alle Männer an den Pranger stellen. Doch anstatt das Problem einfach wegzuschieben (oder die Sache im schlimmsten Fall noch umzudrehen à la „Als Mann darf man heute echt gar nichts mehr sagen/machen“), sollte man das System und sich selbst vielleicht einfach mal ein bisschen hinterfragen. Und vor allem (und das geht jetzt direkt an die Männerwelt) müssen Frauen und ihre Ängste ernst genommen werden. Wir haben ein Recht, angry zu sein. Also schaut hin, hört zu – und fangt am besten mit „Angemessen Angry“ an. Diese Serie ist ein Muss – für uns alle!