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Interview

Warum U-Untersuchungen unbedingt Pflicht sein sollten

U-Untersuchungen Terre des Femmes

Durch regelmäßige ärztliche Vorsorgeuntersuchungen (U-Untersuchungen) können nicht nur gesundheitliche Probleme bei Kindern, sondern auch Fälle von Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch aufgedeckt werden. Die Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES fordert daher mit der Petition „U-Untersuchungen: Unbedingt Pflicht!“ eine bundesweite Einführung und die vollständige Kostenübernahme durch alle Krankenkassen. Vanessa Bell, Referentin für häusliche und sexuelle Gewalt bei TERRE DES FEMMES, hat im desired-Interview erklärt, warum U-Untersuchungen so wichtig sind und wie diese auch weibliche Genitalverstümmelungen verhindern können.

In Deutschland hat zwar bisher jedes Kind bis zum 18. Lebensjahr Anspruch auf 14 Vorsorgeuntersuchungen, eine deutschlandweite gesetzliche Pflicht gibt es bisher aber noch nicht. Wenn es nach TERRE DES FEMMES geht äußerst fatal, denn so könnten Fälle von Kindesmissbrauch unentdeckt bleiben. Mithilfe der Petition „U-Untersuchungen: Unbedingt Pflicht!“ könnte sich dies aber bald schon ändern. Wer sich für mehr Kinderschutz in Deutschland einsetzen möchte, sollte sich allerdings beeilen: Die Unterschriften-Aktion läuft nur noch bis zum 15. September 2019 und soll vorausichtlich Anfang Oktober dem Bundesministerium für Gesundheit übergeben werden.

Vanessa Bell Terre des Femmes
Vanessa klärt bei Terre de Femmes über die Notwendigkeit von U-Untersuchungen auf.

desired: Bei vielen bekannten Todesfällen von Kindern in der Vergangenheit waren die Familien den Jugendämtern ohnehin bereits bekannt. Dass nicht eingegriffen wurde, lag oft eher an der fehlenden Kommunikation zwischen den zuständigen Ärzten und Behörden. Sind verpflichtende U-Untersuchungen also wirklich das richtige Mittel, um Fälle von Kindesmisshandlungen aufzudecken?

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Vanessa Bell: Das stimmt, die „schweren“ Fälle der Kindeswohlgefährdung sind meistens den Behörden bekannt. Ein Problem ist oft die mangelnde Kommunikation der verschiedenen Professionen untereinander. Aber genau da setzt die Verpflichtung für die U-Untersuchungen ja auch an: Wir kommunizieren! Die Verpflichtung der U-Untersuchungen wäre ein wichtiger Baustein, der zur besseren Vernetzung medizinischer und sozialer Institutionen zum Schutz der betroffenen Kinder dient, beispielsweise durch einheitliche Meldesysteme in Deutschland.

Entsteht durch Kontrollbesuche im Falle einer nicht wahrgenommenen U-Untersuchung nicht ein riesiger Bürokratie-Apparat? Kritiker sagen, dass Jugendämter dadurch von wichtigeren Aufgaben abgehalten werden…

Natürlich ist es ein großes Problem, dass die Jugendämter in Deutschland überlastet sind. Trotzdem darf man deshalb mögliche Hilfen im Kinderschutz nicht ignorieren. Jedes einzelne Kind in Deutschland hat das Recht gewaltfrei aufzuwachsen. Das vorhandene und bereits etablierte System der U-Untersuchungen für Kinder ist ein sehr gut geeignetes Instrument, was nicht neu geschaffen werden, sondern nur noch effizienter und mit mehr Budget ausgestattet ausgebaut werden muss. Klar, reicht es als alleiniges Instrument nicht aus, aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Werden Eltern durch die gesetzliche Pflicht nicht auch ein Stück weit in Generalverdacht gestellt?

Nein, die Petition hat nicht die Bevormundung und Kontrolle zum Ziel, sondern die Verantwortungsübernahme durch den Staat. Wir wissen, dass die große Mehrheit der Eltern ihre Aufgaben sehr verantwortungsbewusst wahrnimmt. Leider sind zu häufig Eltern überlastet und überfordert. Wo elterliche Sorge versagt, muss der Staat unterstützend eingreifen. Er hat ja schließlich auch einen gesetzlichen Schutzauftrag (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG). Natürlich müssen die zuständigen Behörden genaue Untersuchungen durchführen, damit es zu keinen Fehlern kommt.

Das Kindeswohl muss über dem Elternrecht stehen. Kinder gehören nicht ihren Eltern, sondern sich selbst.
Vanessa Bell, Referentin für häusliche und sexualisierte Gewalt

Werden die Fristen für die Pflichtuntersuchungen bei einer gesetzlichen Durchsetzung so gesetzt sein, dass diese auch beruflich sehr eingespannte Eltern wahrnehmen können?

In den Bundesländern Hessen, Baden-Württemberg und Bayern sind die U-Untersuchungen bereits Pflicht. Hier sind die Fristen auch so gelegt, dass berufstätige Eltern diese wahrnehmen können. Das sollte auch bundesweit kein Problem sein.

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Ziel von TERRE DES FEMMES ist auch, dass durch die U-Untersuchungen Fälle von weiblicher Genitalverstümmelung aufgedeckt, bzw. verhindert werden. Ist dies in Deutschland tatsächlich ein zunehmendes Problem?

Auch wenn die meisten Menschen das Problem der weiblichen Genitalverstümmelung auf dem afrikanischen Kontinent verorten, ist es tatsächlich ein globales Phänomen. Weibliche Genitalverstümmelung wird zwar in vielen afrikanischen Ländern, aber auch in Ländern im Nahen und Mittleren Osten sowie in Südostasien praktiziert. Durch Migration ist die weibliche Genitalverstümmelung weltweit verbreitet. So auch in Europa und Deutschland. Statistiken der letzten Jahre zeigen eine konstante Zunahme der betroffenen und gefährdeten Mädchen und Frauen in Deutschland. Aktuell gehen wir von mindestens 65.000 betroffenen Mädchen und Frauen hierzulande aus. Weitere 15.000 Mädchen sind in Deutschland bedroht, einer Genitalverstümmelung unterzogen zu werden. Verpflichtende U-Untersuchungen können einen Beitrag dazu leisten, diese Mädchen zu schützen.

Weibliche Genitalverstümmelungen werden bei manchen Mädchen erst im Jugendalter durchgeführt. Kann man Jugendliche wirklich „zwingen“, sich ärztlich an den Genitalien untersuchen zu lassen? Was ist, wenn bspw. ein beschnittenes 16-jähriges Mädchen sich bei der Untersuchung weigert, aus Angst, dass ihre Eltern strafrechtlich verfolgt werden?

Natürlich kann sich ein 16-Jähriges Mädchen gegen eine Untersuchung ihrer Genitalien aussprechen. Mädchen und Frauen können trotz einer Verpflichtung der U-Untersuchungen selbstbestimmt handeln. Wichtig ist hier daher, dass Ärzte und Ärztinnen für diese Themen sensibilisiert werden. Deshalb fordern wir in unserer Petition auch die Sicherstellung einer ausreichenden Finanzierung von Fort- und Weiterbildungen für Kinder- und JugendärztInnen im Umgang mit Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch und weiblicher Genitalverstümmelung.

Was kann ich tun, wenn ich die Forderung unterstützen möchte, außer selbst eine Unterschrift zu leisten?

Verbreite die Petition auf deinen Social-Media-Kanälen, teile Sie mit Freunden und Bekannten in WhatsApp-Gruppen. Auf unserer Website kann man ganz untern auch die Unterschriftenlisten ausdrucken und selbst Unterschriften sammeln. Ich selbst gehe auch mit Praktikantinnen von TERRE DES FEMMES auf die Straße, oder stelle mich an Bahnhöfe und spreche Menschen an und bitte sie um eine Unterschrift. Wir sind super motiviert den Kinderschutz in Deutschland zu verbessern, können das aber nur mit eurer Hilfe!

Für wie wahrscheinlich hältst du es, dass eure Forderung durchgesetzt wird?

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Wir haben schon viel Zuspruch aus Politik, Gesellschaft, Kinder- und Jugendschutz sowie Gesundheit bekommen. Unter anderem hat uns der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dem höchsten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, in unserem Vorhaben bestärkt. Wir hoffen, dass Herr Spahn unsere Petition zum Schutz der Kinder unterstützen wird. Kinderschutz geht uns alle etwas an und ich glaube fest daran, dass wir mit unserer Petition etwas bewegen werden.

Vielen Dank für das spannende Interview, Vanessa!

Bildquelle: desired, Instagram/terre.des.femmes