In der Theorie haben die meisten Frauen eine Vorstellung davon, wie sie ihre Kinder erziehen wollen. Wenn es dann soweit ist, sieht die Realität aber meist ganz anders aus. So sehr sich viele davor sträuben: Oft verfallen wir in das gewohnte Rollenverhalten unserer eigenen Mütter. Die Autorin und angehende Psychotherapeutin Nina Grimm will ihrem neuen Ratgeber „Hätte, müsste, sollte” die Lücke zwischen eigenen Idealen und der alltäglichen Praxis schließen. Im Interview erklärt sie, was es mit Bedürfnisorientierung auf sich hat und warum wir häufig in alte Rollenmuster zurückfallen.
Dies ist die gekürzte Version des Interviews. Das vollständige Gespräch kannst du dir im aktuellen desired-Podcast anhören!
desired: Warum ist das Thema Kindererziehung zu deiner persönlichen Passion geworden?
Nina Grimm: Ich bin von Haus aus Psychologin und in den letzten Zügen zur staatlichen Anerkennung als psychologische Psychotherapeutin. Allein durch die Ausbildung bin ich mit extrem viel Wissen Mutter geworden. Ich habe in der Schwangerschaft viele Ratgeber gelesen und hatte eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, wie ich das alles machen möchte, wie ich als Mutter sein möchte, um dann feststellen zu müssen, dass mir dieses theoretische Wissen in der Praxis wenig bringt. So ist das zu meinem Steckenpferd geworden, dass ich heute Eltern dabei unterstütze, das zu leben, was ihnen theoretisch längst klar ist. Es ist auch ein persönliches Herzensanliegen, weil ich der Überzeugung bin, dass die Art und Weise, wie wir mit unseren Kindern umgehen, die Welt von Morgen bestimmen wird. Das klingt ein bisschen kitschig, aber für mich ist es nichts weniger als ein essenzieller Beitrag für die Zukunft.
Ein Wort taucht bei dir immer wieder auf, auch auf dem Titel deines Buches: Bedürfnisorientierung. Was bedeutet das genau im Zusammenhang mit Kindererziehung?
Das Ganze hat seinen Ursprung im amerikanischen „attachment parenting”, wo es darum geht, die Bindung und die Beziehung in das Zentrum der Erziehung zu stellen. Es geht nicht mehr so sehr um ein bestimmtes Erziehungsziel. Wenn ein Kind zum Beispiel einen Wutanfall hat, beginnt man nicht gleich in der Situation zu schimpfen und an Regeln zu erinnern. Stattdessen schaut man gemeinsam mit dem Kind darauf, was hinter dem Verhalten steckt und was das eigentliche Bedürfnis in diesem Moment ist, das nicht befriedigt ist. Wenn das Kind gerade das große Bedürfnis hat, Autonomie zu leben und weil das nicht gewährleistet ist, wütend wird, könnte man das so lösen, dass man dem Kind die Wahlfreiheit wieder stellt, um so den Wutanfall aufzufangen.
In der Szene beobachte ich einfach, dass diesbezüglich ein ganz großes Missverständnis besteht. In meinem Beratungsalltag habe ich viele Eltern und vor allem Mütter mitbekommen, die wirklich sehr ambitioniert sind und alles für ihr Kind geben, sich selbst dabei aber komplett vergessen. Ich halte das für gefährlich. Wenn wir selbst ausbrennen, können wir nicht mehr für unsere Kinder da sein. Deswegen geht es in meiner Arbeit auch im Wesentlichen darum, dass wir Mütter, aber auch die Väter, wieder in eine bessere Beziehung zu uns selbst treten und unsere eigenen Bedürfnisse ernster nehmen.
Viele Frauen malen sich aus, wie sie später mal ihre Kinder erziehen werden. Ein Klischee, was immer wieder auftaucht, ist die Aussage: Ich möchte nie so werden wie meine Mutter. Ohne es zu wollen, werden sie es dann aber doch. Ist an diesem Phänomen wirklich etwas dran?
Ja, ich bekomme das in meinem Beratungsalltag sehr häufig mit, dass ich Kundinnen habe, die sagen: „Ich erschrecke darüber, aber ich klinge wirklich eins zu eins wie sie!“ Meine Idee ist, dass wir durch die Fehler unserer Eltern alle ein Stück weit unsere Wunden davongetragen haben. Das muss nichts Schlimmes oder Traumatisches sein, aber wir bringen alle unsere Themen mit und die sind natürlich durch die Erziehung begünstigt. Ich beobachte, dass ganz viele Eltern durch die Erziehung mit ihrem Kind versuchen, diese alte Wunde zu heilen, indem sie das ein Stück weit externalisieren. Sie versuchen also, die Lösung im Außen zu finden, indem sie diesen neuen Umgang mit ihrem Kind finden. Das ist aber eigentlich ein Versuch, den eigenen Schmerz ein Stück weit zu mildern. Weil das Ganz auf einem alten Schmerz basiert, ist es auch mit einer gewissen Spannung verbunden. Wenn wir dann in Stresssituationen scheitern – das lässt sich neuropsychologisch ganz wunderbar erklären – haben wir die Tendenz zurückzufallen in altbewährte Mechanismen, wie wir sie vom Elternhaus mitbekommen haben.
Wäre es also besser, sich nicht so sehr dagegen zu wehren, genauso zu werden wie die eigene Mutter?
Es ist vor allem das Beste, wenn man sich nicht so viel Stress und Druck macht. Der Druck, diese alten Wunden zu heilen, erzeugt emotionalen Stress. Wenn ich dann aber merke, dass das nicht klappt, kommt es zu Gefährdungsmomenten. Es ist schön, wenn wir wach und reflektiert auf unsere eigene Erziehung blicken und uns fragen: Was möchten wir anders machen? Mein Appell ist nur: Macht es mit weniger Druck!
Oft sagt man sich im Vornherein schon: Das würde ich als Mutter auf keinen Fall machen. Man hat aber keine Lösung dafür, wie man es anders machen würde. Ist diese negative Herangehensweise schon falsch?
Absolut, das ist eine ganz urmenschliche Tendenz, dass wir uns negative Ziele stecken, sobald wir vor einer Herausforderung stecken. Wir sagen zum Beispiel: „Ich will weniger Streit.“ Das erschafft aber automatisch schon diese Wirklichkeit, weil unser Gehirn mit Verneinung nicht so gut klarkommt. Wenn ich sage, ich möchte weniger Stress, ist in meinem System automatisch „Stress“. Aus einer lernpsychologischen Sicht macht es mehr Sinn, uns positive Ziele zu stecken und eine Vision zu formulieren, wie ich es haben möchte.
Im vollständigen Podcast-Interview erfährst du, welche Tipps Nina für Eltern hat, um während der Corona-Pandemie besser klarzukommen und warum man beim Thema gesunde Ernährung nicht allzu streng mit seinen Kindern sein sollte:
Jede Mutter hat ihren eigenen Erziehungsstil. finde mit unserem Persönlichkeitstest heraus, welcher Typ du bist:
Bildquelle: Nina Grimm