Für Links auf dieser Seite erhält desired ggf. eine Provision vom Händler, z.B. für mit oder lila Unterstreichung gekennzeichnete. Mehr Infos.
  1. desired
  2. Eltern & Kind
  3. Dornröschen-Verbot? Bitte nicht!

Kommentar

Dornröschen-Verbot? Bitte nicht!

Dornröschen-Verbot #metoo

Wir alle kennen die Geschichte von Dornröschen, die erst durch den Kuss eines Prinzen aus ihrem hundertjährigen Schlaf geweckt werden kann. Wegen dieser Szene möchte die Mutter eines 6-jährigen Jungen aus England das Märchen vom Lehrplan gestrichen sehen. Der nicht einvernehmliche Kuss sende inmitten der #metoo-Debatten das falsche Signal an heranwachsende Jungen. Doch ist ein Dornröschen-Verbot für Grundschüler erstrebenswert?

Der nicht einvernehmliche Kuss in Dornröschen

Die 40-jährige Sarah Hall hatte sich lange Zeit keine Gedanken über die Schullektüre ihres Sohnes gemacht. Sensibilisiert durch die #metoo-Kampagne, sei ihr allerdings die fragwürdige Kussszene aus Dornröschen aufgefallen, wie sie dem britischen Magazin Chronicle Live erzählt. Auch andere Märchen mögen ihre problematischen Botschaften haben, aber insbesondere Dornröschen sei ein negatives Beispiel für eine nicht einvernehmliche sexuelle Annäherung. Um auf das Problem aufmerksam zu machen, postete Hall unter dem Hashtag #metoo ein Foto aus der Dornröschen-Schullektüre ihres Sohnes:

Der externe Inhalt kann nicht angezeigt werden.

Darunter schreibt sie: „Ich sag euch was: Wenn wir weiterhin Erzählungen wie diese in Schulen unterrichten, werden wir niemals tief sitzende sexuelle Verhaltenmuster ändern können.“ Diesen Vermerk postete sie nicht nur auf Twitter, sondern bat die Schule ihres Sohnes auch darum, Dornröschen den jüngeren Kindern vorzuenthalten. Ihr erst sechsjähriger Sohn könne Geschichten wie diese noch nicht ausreichend reflektieren. Das Märchen sei besser für ältere Kinder geeignet, mit denen man über die Kussszene reden könne.

Wie ich Märchen früher wahrgenommen habe

Dornröschen Disney
Lernen Jungs durch Dornröschen, dass man schlafende Mädchen küssen soll?

Mit ihrem Twitter-Post hat Sarah Hall eine Debatte angestoßen, die viele Fragen aufwirft: Wie nehmen Kinder Märchen auf? Interpretieren kleine Jungen Dornröschen als Handlungsanweisung, schlafende Mädchen ungefragt zu küssen? Und muss Schullektüre frei von fragwürdigen Passagen sein, die nicht mehr zeitgemäß wirken? Dabei war es naheliegend, mich erst einmal selbst zu fragen, wie ich als Kind Märchen wahrgenommen habe.

Ich habe Märchen früher (und auch heute noch) geliebt, egal ob auf Hörspielkassette, vorgelesen aus Großmutters Märchenbuch* oder als osteuropäische Verfilmung. Die alten Erzählungen hatten für mich damals schon einen ganz anderen Charakter als zeitgenössische Geschichten. Für mich waren Märchen schon immer Erzählungen voller gruseliger Elemente und völlig unrealistischen Begebenheiten. Ein sprechender, abgeschlagener Pferdekopf? Brüder, die sich in Schwäne verwandeln? Eltern, die ihre Kinder einfach im Wald aussetzen? So what – das waren ja ganz klar Märchen. Als Kind nimmt man solche Geschichten einfach ganz selbstverständlich auf. Ich habe mir früher weder ausgemalt, wie die Hexe Hänsel tatsächlich tötet und verspeist, noch habe ich mich gefragt, ob der Wolf in Rotkäppchen einen männlichen Verführer symbolisieren soll.

Anzeige

Kinder interpretieren Märchen nicht wortwörtlich

SLEEPING BEAUTY
Handelt der Prinz übergriffig?

Meine kindliche Wahrnehmung scheint laut dem promovierten Erziehungswissenschaftler Oliver Geister ganz typisch zu sein. Er liefert auf der Seite maerchenpaedagogik.de ein breites Informationsangebot über den kindgerechten Umgang mit Märchen. Geister hat sich eingehend mit grausamen Elementen in Märchen beschäftigt und ist dennoch ein großer Verfechter der alten Geschichten. Denn ihm zufolge schmälert das typische Element des Wunderbaren in Märchen problematische oder traumatisierende Passagen. Gerade Kinder könnten die meist symbolische Bildsprache viel besser entschlüsseln als Erwachsene. Der Pädagoge hat in seinen eigenen Uniseminaren häufig die Beobachtung gemacht, dass Studierende erst im Erwachsenenalter gewisse Elemente in Märchen als grausam oder anderweitig problematisch interpretieren.

Dass sich eine 40-jährige Mutter über Dornröschen empört, hat also vielleicht nicht nur etwas mit der Sensibilisierung durch die aktuelle #metoo-Debatte zu tun. Vielmehr scheint es typisch für Erwachsene zu sein, Märchen wortwörtlich zu interpretieren. So wird aus dem romantischen Prinzen in Dornröschen ein übergriffiger Kerl, der auf das Einverständnis von Frauen pfeift. Dass es sich hier nicht um eine realistische Alltagssituation handelt und diese von Kindern wohl auch kaum so verstanden wird, wird außer Acht gelassen.

Auch die Hintergründe dieser Disney-Märchenverfilmungen sind den meisten Kindern sicher völlig unbekannt:

Disney-Filme, die auf brutalen Märchen beruhen

Disney-Filme, die auf brutalen Märchen beruhen
Bilderstrecke starten (10 Bilder)
Nina Everwin

Diskussionen statt Verbote

Ich finde es durchaus begrüßenswert, dass eine Mutter sich kritisch mit der Schullektüre ihres Sohnes befasst. Ich gehöre auch keineswegs zu den Menschen, die hier sofort hysterisch „Geh mir fort mit deiner Political Correctness!“ schreien würden. Jedoch halte ich es für den falschen Ansatz, jahrhundertealte Märchen Kindern vorzuenthalten, aus Angst, diese könnten ein unerwünschtes Verhalten vermitteln. Ich sehe es viel mehr als Chance, dass gerade solche umstrittenen Märchen in Schulen gelesen und hinterfragt werden.

Schließlich ist es doch Aufgabe von Schulen, Kindern die historische Einordnung von Texten beizubringen. Im Falle von Dornröschen gibt es sogar ein aktuell erschienenes Buch*, das viele interessante Unterrichtsanregungen für Grundschulkinder liefert. Es wäre ein Fehler, dieses Märchen lediglich auf die Kussszene zu reduzieren und diese anhand gegenwärtiger geltender Moralvorstellungen zu interpretieren. Sowohl der historische Kontext als auch die Textgattung Märchen dürfen bei der Bewertung nicht außer Acht gelassen werden. Haben wir das nicht alle damals im Deutschunterricht gelernt? Natürlich wird man mit 6-Jährigen noch keine fundierte Textanalyse vollziehen können. Dass aber Dornröschen aus kleinen Jungen die #metoo-Täter von Morgen fabriziert, halte ich für reichlich überzogen. Angesichts all der medialen Inhalte, denen Kinder ohne pädagogische Begleitung ausgesetzt sind, habe ich bei der Auseinandersetzung mit einem Märchen in der Schule keine Bedenken.

Hältst du Dornröschen dennoch für eine ungeeignete Schullektüre für Kinder? 

Nina Everwin
Anzeige

Bildquelle: Disney

Hat dir dieser Artikel gefallen? Diskutiere mit uns über aktuelle Trends, deine Lieblingsprodukte und den neuesten Gossip im Netz – auf Instagram und TikTok. Folge uns auch gerne auf Flipboard und Google News.