Ein Gespräch mit jemandem zu führen, den du gerade erst kennengelernt hast, fühlt sich oft unsicher an. Du fragst dich: „Habe ich zu viel geredet?“, „War mein Witz unangebracht?“, oder „Fand die andere Person mich überhaupt interessant?“. Eine spannende psychologische Studie hat nun herausgefunden: Diese Sorgen sind meist unbegründet – denn Menschen unterschätzen systematisch, wie sehr andere sie mögen. Liking Gap heißt dieses Phänomen.
Kennst du das Gefühl, nach einem Gespräch mit Selbstzweifeln zu kämpfen? Du bist damit nicht allein. Forscher*innen der Universitäten Cornell, Harvard, Essex und Yale haben im Jahr 2018 in einer umfassenden Studie ein Phänomen entdeckt, das sie als „Liking Gap“ (zu Deutsch etwa: „Mögens-Lücke“) bezeichnen. Ihre überraschende Erkenntnis: Nach Gesprächen wirst du von anderen deutlich mehr gemocht, als du selbst vermutest. Die Studie der britischen Forscherinnen und Forscher wurden in fünf kleinere aufgeteilt, um das Phänomen besser zu verstehen. Die verzwickten Gründe, warum wir immer wieder in der Liking Gap feststecken, sind folgende.
1. Du unterschätzt deine Wirkung auf andere
In der ersten Studie führten die Teilnehmenden kurze, 5-minütige Gespräche mit unbekannten Personen. Anschließend sollten sie einschätzen, wie sympathisch sie ihren Gesprächspartner*innen fanden und wie sympathisch diese sie vermutlich fanden. Das Ergebnis war eindeutig: Die Menschen glaubten, ihr Gegenüber würde sie weniger mögen, als es tatsächlich der Fall war.
Besonders interessant: Je schüchterner die Teilnehmenden waren, desto stärker unterschätzten sie, wie positiv sie auf andere wirkten. Während selbstbewusste Menschen die Sympathie anderer recht gut einschätzen konnten, gingen schüchterne Menschen davon aus, dass ihr Gegenüber sie wesentlich weniger mochte, als es wirklich der Fall war.
2. Deine Selbstkritik verzerrt deine Wahrnehmung
Warum neigst du zu dieser Fehleinschätzung? Die Forscher*innen untersuchten in einer zweiten Studie die Gedanken, die Menschen nach Gesprächen haben. Es zeigte sich: Während du über dich selbst kritisch nachdenkst („Mein Kommentar war bestimmt unhöflich“, „Ich habe zu viel über meine Ex geredet“), sind deine Gedanken über dein Gegenüber meist deutlich positiver.
Diese selbstkritischen Gedanken sind eigentlich funktional – sie helfen dir, dich für künftige Gespräche zu verbessern. Nach einer Unterhaltung denkst du darüber nach, wie du präziser zum Punkt kommen, einen Witz besser erzählen oder lebendiger sprechen könntest. Dein Gegenüber hat jedoch keinen Grund, über deine Verbesserungen nachzudenken – für sie oder ihn war die Geschichte interessant genug, der Witz lustig genug und die Unterhaltung völlig in Ordnung.
3. Du legst an dich selbst strengere Maßstäbe an als an andere
Ein weiterer wichtiger Faktor: Du vergleichst deine tatsächliche Gesprächsleistung mit einem idealisierten Selbst. „Beim letzten Mal habe ich diese Geschichte besser erzählt“, denkst du vielleicht, oder „Ich kann nicht fassen, dass ich den wichtigsten Teil vergessen habe.“
Du hast direkten Zugang zu deinem idealen Selbst und vergleichst deine tatsächliche Leistung damit – ein Vergleich, den dein Gegenüber gar nicht anstellen kann. Zudem sind die Erwartungen anderer an ein Gespräch mit einer neuen Person oft eher niedrig. Während du also denkst, dass du hinter deinem Ideal zurückbleibst, denkt die andere Person möglicherweise: „Das war überraschend angenehm!“
4. Du glaubst, deine Unsicherheit ist sichtbarer, als sie ist
Die Studie zeigt noch einen weiteren, spannenden Grund der Liking Gap: Menschen überschätzen systematisch, wie sehr ihre inneren Gefühle nach außen sichtbar sind – ein Phänomen, das Psycholog*innen als „Illusion der Transparenz“ bezeichnen. Du glaubst, dass deine Nervosität, Unsicherheit oder Selbstzweifel für andere deutlich erkennbar sind, obwohl sie das in Wirklichkeit nicht sind. Während du dich innerlich vielleicht unsicher und unbeholfen fühlst, sind diese Gefühle für andere nicht so offensichtlich. Andere Menschen können nicht in deinen Kopf schauen – sie achten stattdessen auf dein äußeres Verhalten.
5. Die Liking Gap bleibt über lange Zeit bestehen
Die fünfte Studie zeigte, dass die Liking Gap kein kurzfristiges Phänomen ist. Ob die Gespräche nur zwei oder ganze 45 Minuten dauerten, machte keinen Unterschied – die Teilnehmenden unterschätzten durchweg, wie sympathisch sie auf andere wirkten. Noch überraschender: Sie unterschätzten auch, wie sehr ihr Gegenüber die Unterhaltung genossen hatte.
Um zu prüfen, ob die Liking Gap auch außerhalb des Labors existiert, untersuchten die Wissenschaftler*innen Teilnehmende von sogenannten „How to Talk to Strangers“-Workshops in Großbritannien. Auch hier zeigte sich das gleiche Muster: Selbst bevor die Teilnehmenden miteinander sprachen, erwarteten sie bereits, vom Gegenüber als weniger interessant wahrgenommen zu werden. Nach dem Gespräch verstärkte sich diese Fehleinschätzung sogar noch.
In einer weiteren besonders aufschlussreichen Untersuchung wurden Studierende befragt, die als Zimmergenossen in einem Wohnheim zusammenlebten. Über ein ganzes akademisches Jahr hinweg schätzten die Studierenden regelmäßig ein, wie sehr sie ihre Mitbewohner*innen mochten und wie sehr diese sie vermutlich mochten. Die Liking Gap bestand die ersten Monate durchgehend und löste sich erst am Ende des Studienjahres auf – als die Menschen sich wirklich gut kennengelernt hatten.
Das können wir von der Studie lernen
Die gute Nachricht ist: Andere mögen dich meist mehr, als du glaubst! Während du mit deiner eigenen Selbstkritik beschäftigt bist, nimmt dein Gegenüber deine positiven Eigenschaften wahr. Denn was du vielleicht nicht bemerkst: Jahrelange soziale Erfahrung hat dich zu einem angenehmen Gesprächspartner oder einer angenehmen Gesprächspartnerin gemacht, der oder die automatisch den Blickkontakt hält, lächelt, nickt, Pausen macht und sich in einer Weise ausdrückt, die gut ankommt. Diese unbewussten positiven Verhaltensweisen bemerkt dein Gegenüber, während du selbst sie kaum wahrnimmst.
Das nächste Mal, wenn du nach einem Gespräch mit Selbstzweifeln kämpfst, erinnere dich: Dein Gegenüber hat die Unterhaltung wahrscheinlich viel mehr genossen und dich sympathischer gefunden, als du vermutest. Das Bewusstsein für diesen Liking Gap kann dir helfen, soziale Ängste zu reduzieren und mit mehr Selbstvertrauen auf andere zuzugehen. Vielleicht ist das der erste Schritt, um diese „Mögens-Lücke“ zu schließen – und zu erkennen, dass du in Gesprächen meist besser ankommst, als du denkst.