„Wie schnell das Jahr schon wieder vergangen ist!“ – diesen Satz hören wir mit zunehmendem Alter immer häufiger. Während die Sommerferien in der Kindheit noch endlos erschienen, scheinen die Monate heute nur so dahinzufliegen. Die gefühlte Beschleunigung der Zeit ist ein Phänomen, das die meisten Menschen kennen. In der Kindheit zogen sich die Tage bis zum Geburtstag scheinbar endlos hin, heute wundern wir uns, wie schnell schon wieder Weihnachten vor der Tür steht. Dabei tickt die Zeit natürlich immer gleich schnell – es ist nur unser subjektives Empfinden, das sich wandelt. Doch woran liegt das? Dafür hält die Psychologie gleich mehrere Erklärungen bereit.
#1
Die Bedeutung der ersten Male
Je mehr neue Erfahrungen wir machen, desto langsamer scheint die Zeit zu vergehen. Der „Reminiscence Effect“ aus der Gedächtnisforschung zeigt deutlich: Ereignisse im Alter von zehn bis 30 prägen sich besonders stark in unser Gedächtnis ein. In dieser Zeit erleben wir besonders viele „erste Male“: den ersten Kuss, den ersten Job, die erste eigene Wohnung. Mit zunehmendem Alter werden neue Erfahrungen seltener, stattdessen wiederholen sich viele Erlebnisse – und damit beschleunigt sich unser subjektives Zeitempfinden.
#2
Die Routine des Alltags
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die zunehmende Strukturierung unseres Lebens. Während Kinder noch viel Zeit zum freien Spielen und Entdecken haben, ist unser Erwachsenenleben oft von festen Routinen geprägt: Arbeit, Haushalt, regelmäßige Termine. Diese Gleichförmigkeit führt dazu, dass einzelne Tage weniger markant in unserer Erinnerung bleiben. Unser Gehirn speichert Routinen gewissermaßen als Zusammenfassung ab – und schon erscheint uns ein Monat wie im Flug vergangen. Interessanterweise nehmen wir deshalb auch Urlaube und besondere Ereignisse als länger wahr als Zeiten, die von Routine geprägt sind.
#3
Die relative Zeitwahrnehmung
Ein Jahr macht für ein fünfjähriges Kind noch zwanzig Prozent seines bisherigen Lebens aus. Für einen 50-Jährigen sind es dagegen nur noch zwei Prozent. Diese mathematische Relation spiegelt sich auch in unserem Zeitempfinden wider – unser Gehirn scheint Zeit tatsächlich relativ zu unserer bisherigen Lebensspanne wahrzunehmen. Je älter wir werden, desto kleiner erscheint uns ein bestimmter Zeitabschnitt im Verhältnis zu unserer gesamten Lebenserfahrung. Dieses Phänomen der proportionalen Zeitwahrnehmung beschreibt etwa der Physik-Professor Adrian Bejan in seinem 2019 erschienenen Artikel „Why the days seem shorter as we get older“.
#4
Weniger Achtsamkeit im Hier und Jetzt
Mit steigendem Alter neigen wir dazu, mehr in der Zukunft oder Vergangenheit zu leben. Während Kinder ganz im Moment aufgehen, schweifen unsere Gedanken oft ab: Wir planen voraus, grübeln über Vergangenes nach oder erledigen mehrere Aufgaben gleichzeitig. Diese verminderte Achtsamkeit für den gegenwärtigen Moment hat einen nachweisbaren Einfluss auf unser Zeitempfinden. Je weniger bewusst wir den Moment wahrnehmen, desto schneller scheint die Zeit zu verfliegen.
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#5
Der Einfluss unserer Emotionen
Auch unsere emotionale Verfassung beeinflusst das Zeitempfinden stark. Unser Gehirn verarbeitet unter Stress Eindrücke anders als in entspannten Momenten. Dies führt zu einem interessanten Paradox: Stressige Situationen können sich im Moment sehr lang anfühlen, erscheinen im Rückblick aber wie im Flug vergangen. Da viele Menschen mit zunehmendem Alter mehr Verpflichtungen und Verantwortung tragen, erhöht sich auch ihr Stresslevel – und damit das Gefühl der davoneilenden Zeit. Dieses Wissen können wir uns jedoch zu Nutze machen. Denn laut einer Studie des Psychologen Marc Wittmann kann eine verbesserte Emotionsregulation nicht nur dabei helfen, entspannter zu sein, weniger Stress zu empfinden und sogar Depressionen vorzubeugen – sie führt auch dazu, dass die Zeit für uns wieder langsamer vergeht.
#6
Neurologische Effekte
Im Artikel von Adrian Bejan geht es auch darum, dass unser Gehirn Eindrücke mit der Zeit langsamer verarbeitet. Im Kindesalter verarbeiten wir an einem Tag deutlich mehr Bilder als mit voranschreitendem Alter. Das liegt an der Entwicklung unserer Nervensysteme, aber auch daran, dass unsere Nervenbahnen altern.
Unser Ratschlag
Auch wenn wir die Zeit nicht anhalten können, haben wir durchaus Einfluss darauf, wie wir sie erleben. Die Forschung bestätigt: Neue Erfahrungen und bewusstes Erleben können unser Zeitempfinden verlangsamen. Versuche daher bewusst, neue Erlebnisse in deinen Alltag einzubauen und Routinen hin und wieder zu durchbrechen. Übe dich in Achtsamkeit und nimm dir Zeit, den Moment wahrzunehmen. Plane regelmäßig Auszeiten ein, in denen du zur Ruhe kommst und das Hier und Jetzt genießen kannst. Je mehr besondere Momente wir erleben und je achtsamer wir durch den Tag gehen, desto erfüllter und länger erscheint uns die Zeit – ganz wie in Kindertagen.