Etwa 1,5 Millionen Deutsche leiden an der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Vor allem das Ritzen, Schneiden in Arme oder Beine wird oft mit der Krankheit in Verbindung gebracht – dahinter steckt aber natürlich sehr viel mehr. Im neusten desired-Podcast klärt die führende Schematherapie-Expertin Deutschlands, Autorin und psychologische Therapeutin Gitta Jacob, über die Borderline-Störung auf. Außerdem gibt sie Einblicke in eine neue App, die speziell für die Behandlung von Borderlinern konzipiert wurde.
Dies ist eine schriftliche Form des Interviews. Die gesamte Podcast-Folge könnt ihr hier hören.
desired: Was genau versteht man unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung?
Gitta Jacob: Eine Borderline-Persönlichkeitsstörung ist erst mal eine Diagnose. Wenn ich mit einem Menschen mit emotionalen Problemen zu tun habe, dann prüfe ich, ob diese Diagnose vorliegt oder nicht. Dazu gibt es insgesamt zehn Kriterien, die in sogenannten Diagnosesystemen beschrieben und genau erklärt sind. Ein wichtiges Kriterium für die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist emotionale Instabilität. Das bedeutet, dass man sich ganz schnell ganz schlecht fühlen kann, wenn irgendwas passiert ist, wo jemand anders vielleicht sagen würde, „ist doch nicht so tragisch“. Zudem weiß man oft nicht so richtig, was man eigentlich will, wer man eigentlich ist und was man im Leben gerade soll.
Dann gibt es das selbstverletzende Verhalten, wenn man sich zum Beispiel schneidet oder schlägt oder irgendwie anders Verletzungen zufügt. Manche Betroffene haben extreme Probleme mit Wut. So sehr, dass, wenn sie etwas wütend macht, sie auch richtig ausrasten können und auch mal was zu Bruch geht dabei zum Beispiel.
Es gibt ganz verschiedene Symptome und einige beziehen sich vor allem auf extreme Gefühle, die einen überschwemmen können und die man schwer reguliert kriegt. Zum anderen gibt es Symptome, die sich eher im Verhalten äußern. Dann macht man Dinge, wo man sich hinterher denkt „die hätte ich vielleicht besser nicht gemacht“. Zum Beispiel impulsiv etwas kaufen oder Beziehungen eingehen, die eigentlich nicht gut für einen sind oder sich eben selbst verletzen.
Gitta Jacob ist auch als Autorin tätig und hat unter anderem den Ratgeber „Raus aus Schema F – Das innere Kind verstehen, Verhaltensmuster ändern und neue Wege gehen“ veröffentlicht.
Also haben Betroffene immer diesen selbstzerstörerischen Touch in ihrem Verhalten?
Exakt, wobei dieses Verhalten eine bestimmte Funktion hat. In aller Regel dann, wenn Borderline-Patient*innen negative Gedanken haben, wie: „Ich fühle mich schlimm, ich fühle mich schrecklich, ich habe Ängste oder fühle mich allein, bedroht oder verlassen.“ Dann machen sie in dem Moment irgendwas, was sie aus diesen Gefühlen rausholt.
In dem Moment denken sie aber nicht: „Ich mache das jetzt aus Selbstzerstörungsgründen, es tut mir nicht gut, ich mache es trotzdem“, sondern es ist eher unreguliert. Man hat es nicht im Griff, sondern wird davon überwältigt und reguliert damit quasi seine negativen Gefühle.
Welche spezifischen Verhaltensweisen sind noch typisch für eine Borderline-Störung; wie könnte ich mir zum Beispiel einen Freund oder eine Freundin mit Borderline vorstellen?
Unter anderem ist die Instabilität in Beziehungen typisch für eine Borderline-Störung. Das heißt, dass sie in Beziehungen zu anderen Menschen sehr wechselhaft sein können. Teilweise wird die andere Person idealisiert und sie denken, das ist jetzt wirklich die EINE Person, die mich vielleicht auch rettet oder die mir superwichtig ist. Aber in einem anderen Moment, wenn irgendwas vorfällt, was zum Beispiel ärgerlich ist, dann können die Menschen total abstürzen und die andere Person extrem abwerten und von einem Moment auf den anderen denken, „es ist doch alles scheiße, was bisher gelaufen ist!“
Das bedeutet, als Bezugspersonen kann es dir gut passieren, dass du abwechselnd total wichtig bist und dann wieder Wut oder Ablehnung abbekommst und dir dann natürlich denkst: „Was ist denn jetzt los?“
Und wieso ist das so krass? Rührt das aus Selbstzweifeln?
Genau. Es gibt verschiedene therapeutische Konzepte, die alle davon ausgehen, dass Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen extrem dazu neigen, Dinge negativ zu interpretieren und extrem dazu neigen, negative Gefühle zu erleben. Platt gesagt: Würde jemand mit einer Neigung zum Borderline eine kleine Ablehnung des Alltags erleben, wenn irgendjemand zum Beispiel ein bisschen unfreundlich war, der aber jetzt für mich gar nicht so wahnsinnig wichtig ist, wo ich vielleicht sage Schwamm drüber, würde das ein Mensch mit Boderline einfach extrem negativ erleben.
Und die verschiedenen Konzepte, die beschreiben, warum das so ist, gehen eigentlich alle davon aus, dass es eine Kombination aus zwei Themen ist. Einmal Dinge, die man im Leben erlebt hat, die einen einfach erwarten lassen, dass Menschen schlecht zu einem sind. Und andererseits ist es auch eine gewisse Neigung zu negativen Gefühlen. Das ist dann auch ein Persönlichkeitsmerkmal.
Das klingt auch ein wenig manisch-depressiv; Himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Ist es generell schwer, eine Borderline-Diagnose zu stellen?
Mal so, mal so, würde ich sagen. Es gibt Menschen, da ist es schon relativ eindeutig. Was es aber immer gibt, sind Probleme mit Depressionen oder auch Probleme mit Angststörungen. Also wenn man mit jemanden, der eine schwere Borderline-Störung hat, alle psychischen Diagnosen durchspricht, dann kommt man am Schluss oft auf so eine Liste von fünf Diagnosen. Da ist natürlich die Frage, wie hilfreich ist das jetzt, weil Borderline im Vordergrund steht.
Die Abgrenzung zu dem Manisch-depressiven, was Sie erwähnt haben, ist, dass es für die Borderline-Störung eigentlich dieses Himmelhochjauchzend nicht wirklich gibt. Die ganze emotionale Instabilität beruht eigentlich eher darauf, dass es den Betroffenen normal geht und dann passiert eine Kleinigkeit und sie stürzen emotional ab. So dieses total Euphorische, super Positive oder wie in der Manie, dass man dann mega optimistisch ist und sich ganz große Dinge vornimmt, ist nicht typisch für die Borderline-Störung.
Und können Menschen denn dann nach einem Streit oder nach einem Wutausbruch ihr Verhalten reflektieren? Oder ist es ein Teufelskreis aus: Ich hasse mich selbst dafür, aber die Person wollte mir auf jeden Fall etwas Schlechtes?
Genau diesen Teufelskreis kann es geben und das ist natürlich auch genau das, wo Psychotherapie ansetzt, aus diesem auszubrechen. Denn durch unreguliertes Verhalten kann es Teufelskreise in zwei Richtungen geben. Es kann passieren, dass Borderliner denken, die Person will mir wirklich etwas Böses und negative Interpretationen immer weiter in sich tragen. Es kann auch die Teufelskreise geben, in denen es zu einer Art Einsicht kommt, also: „Jetzt habe ich mich wirklich auch blöd benommen, deswegen bin ich jetzt ein schlechter Mensch.“ Doch dann bashe ich mich selbst, wodurch der Selbsthass noch größer wird.
In der Therapie schaut man sich genau diese Sachen an und lernt, das Verhalten erstmal zu verstehen und dann zu regulieren. Wenn wieder eine solche Situation passiert, in der man etwas vermeintlich Negatives erlebt hat, schaut man, was ist auf meiner Seite passiert, was ist auf der anderen Seite passiert? Und wie kann ich es schaffen, mich in so einer Situation zu beruhigen, damit es nicht wieder zu so einer Eskalation kommt. Genauso wichtig ist es zu lernen, nach so einer Situation etwas „reparieren“ zu können, ohne mich jetzt allzu sehr selbst abzuwerten – weil das bringt keinem etwas.
Könnte man denn sagen, dass Menschen mit Borderline-Störungen besonders empathisch sind?
Emphatisch wäre ja, dass man sich in andere Menschen hineinversetzen kann. Ich glaube, Betroffene sind in aller Regel sehr sensible Menschen, die sehr stark auf soziale Signale reagieren. Insofern ja, einerseits schon. Andererseits gibt es halt diese Neigung, alles negativ zu interpretieren, das ist dann aber oft eine Fehlinterpretation. Es ist dann sicherlich eine hohe Empfänglichkeit für soziale Signale, die aber falsch interpretiert werden und das würde man dann nicht mehr empathisch nennen, sondern eine übertriebene Reaktion.
Und wie kann eine Borderline-Störung entstehen? Sie haben Erfahrungen aus der Kindheit oder aus früheren Jahren angesprochen, also spielen da auch traumatische Kindheitserfahrungen wahrscheinlich eine große Rolle?
Ja, auf jeden Fall. Also es müssen sicherlich immer zwei Faktoren zusammenkommen: eine Neigung dazu, psychische Schwierigkeiten zu entwickeln, aber viele Borderline-Patient*innen haben schon auch wirklich schlimme Kindheitserfahrungen gemacht.
Also viele, nicht alle, aber viele Betroffenen kommen aus Elternhäusern, wo es schwere psychische Erkrankungen gab, Gewalt, sexuelle Gewalt, Alkoholismus, da kriegt man schon sehr, sehr hässliche Dinge oft erzählt.
Und Sie schreiben, dass sich eine Borderline-Störung sehr gut therapieren lässt. Warum ist das so und wie funktioniert das?
Das ist so, weil in den letzten rund 30 Jahren mehrere psychotherapeutische Ansätze entwickelt wurden, die im Prinzip alle versuchen, auf verschiedene Arten Verständnis in das Chaos zu bringen. Was sich für die Therapie bewährt hat, ist unter anderem die Schematherapie. Ich bin selbst Schematherapeutin und in der Praxis, in der Schematherapie, arbeitet man zum Beispiel mit verschiedenen Anteilen. Da ist zum Beispiel der verletzte Kind-Anteil, der sich einsam gefühlt hat. Ein wütender Kind-Anteil, der an die Decke gegangen ist. Ein strafender Anteil, der gesagt hat, „du bist ein total schlechter Mensch“, weswegen es zur Selbstverletzung aus Gründen der Selbstbestrafung kam.
Wenn man sich emotional von all dem so überfordert gefühlt hat, kann es sein, dass man dann in einen sogenannten schützenden Anteil gegangen ist, wo man versucht, Emotionen abzuspalten. Das erklärt dann zum Beispiel so was wie sich zu betrinken oder zu kiffen oder irgendwelche Substanzen zu nehmen, die einen beruhigen.
In der Therapie denkt man dann, „was für ein Schlamassel“ und dieser Anteil, der sich das denkt und der sich ganz anders anfühlt als alle anderen Kind-Anteile, das ist dann der gesunde Erwachsenen-Anteil.
In der Schematherapie versucht man diese Episoden von Leid und Symptomen immer in diese Raster einzugruppieren, um dann mit bestimmten Techniken zu versuchen, den verschiedenen Anteilen entsprechend etwas entgegenzusetzen. Betroffene lernen dann zum Beispiel zu schauen, wie sieht es aus, wenn ich mich so zurückziehe und mich selbst schütze? Was mache ich da eigentlich, was hat es für Vor- und Nachteile, was kann ich vielleicht machen, damit es weniger schädlich wird? Damit möchte ich aber nicht sagen, dass es nur die Schematherapie gibt. Es gibt auch andere Konzepte, die auch absolut gut funktionieren können.
Auch Journaling hat nachweislich einen positiven Einfluss auf unsere Stimmung, da es vor allem die Dankbarkeit in den Fokus rücken kann. Wie es funktioniert, kannst du im Video sehen:
Es gibt jetzt ein tolles Hilfsmittel für Borderline-Patientinnen und Patienten, die digitale Gesundheitsanwendung oder besser gesagt die App priovi. Sie sind Entwicklungsleiterin bei der Firma Gaia, die auch priovi vertreibt, Können Sie uns etwas über priovi erzählen?
Priovi war uns sehr wichtig, weil es einfach so ist, dass Psychotherapie ganz klar bei Borderline hilft, es aber viel zu wenige Angebote gibt und die Betroffenen immer wieder in Kliniken oder auf langen Wartelisten landen und eigentlich nicht das kriegen, was sie brauchen.
Ich will damit nicht sagen, dass priovi alle rettet, aber es ist ganz klar ein Angebot, was wirklich gefehlt hat. Patienti*innen können damit vielleicht schon einen ersten therapeutischen Schritt machen. Denn priovi ist ein schematherapeutisches Programm, speziell für Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Wenn man mit priovi startet, geht es erst mal ausführlich darum, was Borderline überhaupt ist, was es für Symptome gibt und so weiter. Nutzer*innen analysieren dann mit der App ihre eigenen inneren Anteile. Also woran erkenne ich meinen inneren ängstlichen Kindmodus, meinen wütenden Kindmodus? Wir nennen das in der Schematherapie das Modusmodell.
Zu den verschiedene Schemamodi gibt es Übungen, um genau zu schauen, was die schützenden Anteile für Vor- und Nachteile haben, wo könnte ich da etwas reduzieren, was könnte ich mal stattdessen machen. Oder mein inneres Kind; was tut dem gut? Wie kann ich meine inneren kritischen Stimmen bekämpfen? Mit den Übungen sollen die Anteile stabilisiert werden und Wege gefunden werden, damit es einem besser geht. Das sind alles Themen, die priovi sozusagen mit der Nutzerin bespricht.
Was priovi nicht machen kann, ist natürlich zu fragen: „Wie war denn dein Tag, was bringst du heute mit oder wie war deine Woche?“ Also dieser individuelle Teil fehlt, aber was priovi gut machen kann, ist wirklich die Techniken, die helfen, damit man sich besser fühlt, ganz gestuft und vorsichtig anzubieten.
Wahrscheinlich ist eine App auch gerade für Borderliner mit großen Vertrauensproblemen eine gute Idee?
Total. Wir haben priovi unheimlich lieb gestaltet und uns war wichtig, dass man beim Nutzen der App, Wärme spürt, weil das einfach was ist, was im Leben der Betroffenen fehlt. Viele Betroffene finden keine Therapie, weil es zu wenig Therapeut*innen gibt. Aber es ist natürlich auch schwer, wenn ich mich als Patient*in gerade zurückziehe, total depressiv bin, mich gestern betrunken habe, mich vielleicht für meinen Zustand schäme, Dienstag früh um neun in der Therapie erscheinen. Da ist natürlich die Gefahr total groß, dass ich nicht erscheine in der Sitzung, und dann sagt auch eine Therapeutin nach drei verpassten Sitzungen, jetzt reicht es mir.
Das wird dann auch immer peinlicher, da noch hinzugehen. Die Angst vor Bewertung, wenn ich jetzt einen Seelen-Striptease hinlege, ist noch mal extremer bei Borderline-Patient*innen. Da haben wir durchaus die Rückmeldung gekriegt, dass so ein Computer, der mich gar nicht bewerten kann, eigentlich sehr angenehm ist. Man kann dann auch manchmal tatsächlich mit einem Computerprogramm einiges vielleicht offener besprechen als mit einem Menschen. Es fehlt natürlich das Persönliche, aber das hat auch durchaus etwas Entlastendes.
Wie können Betroffene priovi erhalten und nutzen?
Priovi ist ein Medizinprodukt, also das ist hochoffiziell geregelt, hat eine Risikobetrachtung und ein Sicherheitskonzept und wird regelmäßig überwacht. Die App ist kein lustig programmiertes Spielzeug, sondern ein seriöses Medizinprodukt, das man sich verschreiben lassen muss. Ich schätze mal, priovi würden wahrscheinlich eher nicht die Hausärzt*innen verschreiben, das überlassen sie wohl lieber den Psychologie-Fachleuten. Entweder können Psychiater*innen priovi verschreiben oder auch psychologische Psychotherapeut*innen.
Wenn ich jetzt denken würde, ich könnte betroffen sein oder zum Beispiel schon eine Borderline-Diagnose habe und aus irgendwelchen Gründen denke, das ist für mich ein interessantes Angebot, dann könnte ich zum Beispiel zu einer/m Psychotherapeut*in in eine Sprechstunde gehen oder zu einer/m Psychiater*in, um es mir da verschreiben zu lassen.
Gibt es etwas, was Sie Betroffenen gerne mit auf den Weg geben würden?
Ich glaube, man braucht einen langen Atem, aber dann lohnt es sich. Die Störung ist behandelbar, es kann einem besser gehen – man muss sich aber auch immer aktiv umgucken. Das können psychotherapeutische Angebote sein, es können auch mal andere Angebote sein. Es hilft sehr, diesen Weg zu gehen, denn es wird mit der Zeit einfach immer besser.
Studien zeigen, dass, wenn es einmal besser geworden ist, es in der Regel auch so bleibt. Also man muss nicht befürchten, dass man, wenn man sich lange rausgekämpft hat, aus diesen Problemen und irgendwann echt stabilisiert im Leben steht, wieder zurückfällt. Das, was man geschafft hat, hat man in der Regel auch geschafft!
Bildquelle: Raimar von Wienskowski