Fühlst du dich oft gehetzt, überfordert und wie in einem endlosen Hamsterrad gefangen? Der Ursprung dieser Gefühle könnte tiefer liegen als gedacht – nämlich in deiner Kindheit. Hurried Child Syndrome heißt das psychologische Phänomen, das heute relevanter ist denn je. Wir erklären dir, was dahintersteckt und welche Verhaltensweisen typisch sind.
Was ist das Hurried Child Syndrome?
Der amerikanische Psychologe David Elkind prägte in den 1980er Jahren den Begriff des Hurried Child Syndroms. Die etwas sperrige deutsche Übersetzung wäre Gehetztes-Kind-Syndrom. Es geht sehr allgemein gesagt darum, dass Kinder viel zu früh viel zu viel Druck und Erwartungen aufgehalst bekommen haben. Denn beim „Hurried Child Syndrome“ wurden Kinder immer wieder in Situationen gebracht, die ihre Belastbarkeit überstiegen. Ob Klavierunterricht parallel zum Sportverein, Nachhilfe schon in der Grundschule oder die Erwartung, bereits als Kind „vernünftig“ und „erwachsen“ zu sein – die Liste der Überforderungen war lang.
Statt eines Lebensstils, der ihrem Alter angemessen ist, standen frühzeitige Leistungsoptimierung und überhöhte Erwartungen im Vordergrund. Die Folgen dieser gehetzten Kindheit können bis ins Erwachsenenalter nachwirken und sich in verschiedenen Verhaltensmustern zeigen. Kommen dir solche Situationen aus deiner Kindheit bekannt vor? Oder fragst du dich manchmal, warum du dir immer so viel Druck und Perfektionismus auferlegst? An diesen fünf typischen Verhaltensweisen kannst du erkennen, ob du vielleicht unter dem Hurried Child Syndrome leidest und wie du ihm entgegenwirken kannst.
#1
Du kannst schwer „Nein“ sagen
Wurde dir als Kind vermittelt, dass du immer funktionieren musst? Dann kennst du es vielleicht: Selbst wenn dein Terminkalender überquillt, sagst du trotzdem zu weiteren Verpflichtungen „Ja“. Das Gefühl, ständig verfügbar sein zu müssen, sitzt einfach zu tief – auch wenn dein Körper längst nach einer Pause schreit. Vielleicht spürst du auch diese innere Stimme, die dir sagt: „Wenn du absagst, enttäuschst du andere.“ Dieses Muster entsteht oft aus einer Kindheit, in der deine eigenen Bedürfnisse hinter den Erwartungen anderer zurückstehen mussten.
#2
Perfektionismus bestimmt deinen Alltag
Ein weiteres typisches Anzeichen: Du gibst dich erst zufrieden, wenn alles zu 150 Prozent perfekt ist. Dieser Perfektionismus stammt häufig aus einer Kindheit, in der nur Bestleistungen zählten. Das konnte auch eine Studie aus dem Jahr 2019 zeigen, die im Fachmagazin „Frontiers in Psychology“ veröffentlicht worden ist. Heute merkst du das vielleicht daran, dass du Projekte immer wieder überarbeitest oder dich für „durchschnittliche“ Leistungen selbst kritisierst. Die innere Messlatte liegt so hoch, dass du dich permanent unter Druck setzt. Selbst kleine Fehler können sich wie persönliches Versagen anfühlen. Du kennst wahrscheinlich diese erschöpfenden Gedankenspiralen, wenn etwas nicht deinen hohen Standards entspricht.
#3
Entspannung fühlt sich falsch an
Kennst du das ungute Gefühl, wenn du einfach mal nichts tust? Als wäre Entspannung verschwendete Zeit? Menschen mit einer gehetzten Kindheit haben oft verlernt, wie man richtig entspannt. Stattdessen suchen sie ständig nach der nächsten Aufgabe – selbst in Momenten, die eigentlich der Erholung dienen sollten. Vielleicht checkst du sogar im Urlaub ständig deine E-Mails oder machst dir Gedanken über anstehende Projekte. Das schlechte Gewissen beim „Nichtstun“ ist ein klassisches Symptom des Hurried Child Syndroms.
Im Video: So wirkungsvoll ist Journaling
Journaling, oder auch einfach Tagebuchschreiben, ist ein wirkungsvolles Mittel aus der Psychologie, das dir hilft, einen klaren Kopf zu bewahren. Was es so besonders macht und wie du am besten startest, zeigen wir dir im Video.
#4
Du hast Entwicklungsphasen übersprungen
Vielleicht merkst du heute, dass dir bestimmte Erfahrungen fehlen. Während andere mit Leichtigkeit über ihre „wilden Zeiten“ sprechen, hattest du nie eine richtige Rebellionsphase. Das Hurried Child Syndrome führt oft dazu, dass wichtige Entwicklungsphasen übersprungen werden – weil früh erwachsenes Verhalten erwartet wurde. Das kann sich heute darin zeigen, dass du dich in bestimmten sozialen Situationen unsicher fühlst oder Schwierigkeiten hast, spielerisch und unbeschwert zu sein. Möglicherweise hast du auch das Gefühl, deine Jugend „verpasst“ zu haben.
#5
Selbstwert hängt von Leistung ab
Ein besonders tiefgreifendes Merkmal: Dein Selbstwertgefühl ist stark an deine Leistung gekoppelt. Wenn ein Projekt nicht optimal läuft oder du mal nicht die Erwartungen erfüllst, gerät dein ganzes Selbstbild ins Wanken. Diese enge Verknüpfung zwischen Selbstwert und Leistung ist oft eine direkte Folge der frühen Überforderung. Du definierst dich möglicherweise hauptsächlich über deine Erfolge und Leistungen, während persönliche Eigenschaften oder Beziehungen in den Hintergrund rücken. Ein „Nein“ vom Chef oder konstruktive Kritik kann sich dadurch wie eine persönliche Niederlage anfühlen.
Denk dran:
Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Muster nicht in Stein gemeißelt sind. Der erste Schritt ist, sie zu erkennen und zu verstehen, woher sie kommen. Gestehe dir zu, dass du auch mal langsamer sein darfst. Übe dich darin, „Nein“ zu sagen und Pausen einzulegen. Fang an, zwischen deiner Person und deiner Leistung zu unterscheiden. Du bist wertvoll – auch ohne perfekte Ergebnisse.
Vielleicht hilft dir auch professionelle Unterstützung dabei, alte Denkmuster aufzubrechen und neue, gesündere Verhaltensweisen zu entwickeln. Eine Therapie kann dir helfen, verpasste Entwicklungsphasen nachzuholen und einen gesünderen Umgang mit Leistungsdruck zu finden.
Du musst nicht mehr hetzen – du darfst dein Leben in deinem eigenen Tempo leben. Es ist nie zu spät, neue Wege zu gehen und sich von alten Mustern zu befreien. Deine Kindheit mag gehetzt gewesen sein, aber deine Gegenwart und Zukunft können anders aussehen.
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