Ab dieser Woche treten in Deutschland Lockerungen der Eindämmungsmaßnahmen inkraft. Viele Bürger machen sich Sorgen: Wird sich das Coronavirus dadurch wieder schneller in Deutschland verbreiten können? Virologe Christian Drosten meint: Die Verbreitung ist schon während der Kontaktbeschränkungen passiert – und zwar unbemerkt. Er befürchtet, dass uns eine zweite, heftige Corona-Welle bevorsteht.
Dass ab dieser Woche in Deutschland Lockerungen eingeführt werden, um die angeschlagene Wirtschaft wieder anzukurbeln, hält Virologe Christian Drosten für sinnvoll. „Das ist eine ganz naheliegende Überlegung, die ich auch teile, vom Grundsatz her“, erzählt er in Folge 33 des NDR-Podcasts „Das Coronavirus Update“. Drostens große Sorge ist jedoch eine ganz andere: Er befürchtet dass sich die Erkrankung längst unter der Decke der Maßnahmen weiterverbreitet hat, ohne dass wir es bemerkt haben.
Trotz Kontaktbeschränkungen: Infektionen werden unerkannt verschleppt
Denn bisher gibt es in Deutschland noch große regionale Unterschiede, was die Verteilung des Virus angeht. In bestimmten Regionen gibt es viele Infizierte, in anderen noch sehr wenige. Durch die Kontaktbeschränkungen sei diese Verteilung der Infektionen in Deutschland „ein Stück weit eingefroren worden“, erklärt der Chefvirologe der Berliner Charité. Das könnte sich jedoch bald ändern!
„Was wir im Moment nicht sehen, ist, dass im Hintergrund (…) unerkannt auch einzelne Fälle verschleppt wurden.“ Denn, so gibt Drosten zu bedenken: Trotz der Kontaktbeschränkungen und der Reisewarnungen seien einige Menschen gereist, hätten andere Verwandte oder Freunde besucht oder sich mit mehreren Menschen getroffen, „weil man gedacht hat: Das ist jetzt so wichtig, dass wir eine Ausnahme machen und wir treffen uns trotzdem.“ Diese vielen kleinen Ausnahmen könnten in der Summe nun dazu führen, dass sich das Virus weiter unbemerkt durch das Land verteilt.
Mehr Infektionen bei älteren Menschen
Drosten vermutet neben der örtlichen auch eine Verbreitung der Infektion innerhalb neuer Altersgruppen. Zu Beginn der Corona-Krise hätten vor allem Skifahrer und Karnevalisten das Virus unter sich und in ihrem Bekanntenkreis verteilt. Diese Altersgruppe liege, so Drosten, etwa zwischen 25 und 45 Jahren, womit sie nicht zur Risikogruppe zählt.
Nun würden jedoch auch weitere Infektionsketten unter älteren Menschen entstehen – und zwar nicht nur wegen der Ausbrüche in Altersheimen, sondern auch durch private Treffen, „weil man eben doch sich im Freundeskreis hier und da nochmal weiter trifft. Und weil eben doch hier und da nochmal Opa und Oma besucht werden.“
Droht neue Epidemiewelle „in nicht erwarteter Wucht“?
Momentan würden sich diese beiden Prozesse nur im Hintergrund und recht langsam entwickeln. Doch laut der Einschätzung des Virologen könnten die Ansteckungen explosionsartig in die Höhe schnellen, sobald wir es nicht mehr schaffen, den Wert R0, der angibt wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt, unter 1 zu halten. Dann würde ein Mensch wieder mehr als einen weiteren anstecken. Die Epidemie würde „in nicht erwarteter Wucht“ wieder losgehen und die Situation auf den Intensivstationen sich dramatisch verschlechtern, prophezeit Drosten. Dass es dazu kommen wird, da ist Drosten sich fast sicher.
Wenn der Virologe Recht behält, sind das düstere Aussichten für Deutschland. Umso wichtiger also, dass wir alle uns daran erinnern, dass das Verhalten von jeder und jedem Einzelnen von uns zählt. Vermeintlich kleine Ausnahmen, die wir uns gönnen, weil wir die Kontaktbeschränkungen nicht mehr ertragen, können riesige Auswirkungen haben.
Bildquelle: imago images / Reiner Zensen