Im Jahr 2019 kam man um das Thema „Nachhaltigkeit“ kaum mehr herum. Das ist toll. Auch ich achte jetzt mehr darauf, meinen Konsum umweltfreundlicher zu gestalten. Trotzdem kann ich in Diskussionen zu diesem Thema oft nur die Augen verdrehen. Denn anstatt sich über jeden Schritt in die richtige Richtung zu freuen, wird meistens nur nach Fehlern gesucht.
Als Greta Thunberg Anfang 2019 auf eine 65-stündige Zugfahrt ein in Plastik verpacktes Toastbrot mitnahm, hagelte es Kritik: „Da hätte sie auch gleich das Flugzeug nehmen können!“, hieß es etwa. Die schwedische Klimaaktivistin ist aufgrund ihrer Medienpräsenz häufig Opfer solcher Anfeindungen. Aber auch an anderen Stellen beobachte ich dieses Phänomen immer wieder: Wer besonders auf einen nachhaltigen Lebensstil achtet, wird auch besonders gerne kritisiert – und das nicht nur von Menschen, die ihrerseits alles perfekt machen. Die größten Kritiker leben zwar häufig nach dem Motto „Ganz oder gar nicht“ – entscheiden sich dann aber lieber für „Gar nicht“.
Am schlimmsten von allen Nörglern finde ich jedoch die Leute, für die Umweltbewusstsein zur neuen Wettbewerbsdisziplin wird. Willkommen bei Germany’s Next Klimaretter!
Niemand ist perfekt
Denn sind wir mal ehrlich: Wer umweltbewusst leben will, arbeitet an vielen Baustellen gleichzeitig. Von der Ernährung, über Kleidung, Kosmetik, Flugreisen und der richtigen Heiztemperatur im Winter, gibt es viele Lebensbereiche, in denen wir etwas verbessern können. Ein paar unerschütterliche Idealisten schaffen es vielleicht von 0 auf 100 zu gehen, sich vegan zu ernähren, kein Plastik mehr zu kaufen und nur noch mit der Bahn zu reisen. Anderen reicht es dagegen, nicht für jede Kleinigkeit ein Päckchen bei Amazon zu bestellen – und das ist okay. Zu glauben, man würde alles perfekt machen, ist wohl in jedem Fall anmaßend. Wieso also anderen Menschen jeden Fehlschritt vorhalten?
Wie absurd das werden kann, habe ich erst kürzlich bei einem Ausflug mit alten Freunden erlebt. Toast in Plastikverpackung gab es zwar nicht, dafür aber umso mehr Wurst und Käse. Der Aufschnitt war nicht nur in Plastik verschweißt, sondern hat auch eine miserable CO2-Bilanz. Käse und Fleisch zählen zu den Produkten mit dem größten Treibhausgas-Ausstoß. Das alles schien eine Freundin nicht zu stören. Erst als die Avocados auf den Tisch kamen, schlug ihr Umweltschützer-Radar Alarm. „Wer hat denn die gekauft?“, fragte sie, während sie sich eine Scheibe Wurst aufs Brötchen legte. Noch bevor jemand antworten konnte, belehrte sie uns über den enormen Wasserverbrauch einer Avocado. Ganz zu schweigen von den CO2-Emmissionen, die durch den Transport der Frucht entsteht.
Sie war nicht die einzige in der Gruppe, die seit dem letzten Treffen scheinbar ein verstärktes Umweltbewusstsein entwickelt hatte. Cool, dachte ich, so haben wir alle etwas gemeinsam. Noch besser hätte mir diese Entwicklung jedoch gefallen, wenn nicht jedes Gespräch unweigerlich in einem Nachhaltigkeits-Wettstreit geendet wäre. „Flüge kompensieren macht doch überhaupt keinen Sinn, man sollte lieber gar nicht mehr fliegen“, beschwerte sich ein Freund, der wegen der teuren Zugtickets lieber per Auto angereist war. „Anstatt Fair Fashion, sollte man lieber Second Hand kaufen, dann werden wenigstens keine neuen Ressourcen verbraucht“, argumentierte eine Freundin, deren Oberteil ich zweifelsohne aus der neusten H&M-Kollektion erkannte.
Wieso müssen wir uns immer mit anderen vergleichen?
Egal ob nun einer meiner Freunde seine eigenen Heldentaten hervorhebt und das Handeln anderer dabei kleinredet oder Kabarettist Dieter Nuhr seinen Kindern im Winter die Heizung abdrehen möchte, weil sie bei Friday’s for Future demonstrieren: Ich komme nicht drumherum mich zu fragen, woher das Verlangen kommt, sich ständig mit anderen zu vergleichen und die Fehler in deren Verhalten zu finden.
Glaubt man wirklich, der Welt damit etwas Gutes zu tun, wenn man stur debattiert, warum Greta Thunbergs Segeltörn in die USA auch nicht umweltfreundlicher sei als ein Flug? Oder steckt doch eher das eigene schlechte Gewissen dahinter? Denn wenn andere auch Fehler machen, dann sind die eigenen im Vergleich gar nicht mehr so schlimm. Und wie könnten wir das eigene Selbstwertgefühl besser beflügeln, als wenn wir uns selbst zum Gewinner eines imaginären Wettbewerbs erklären.
Voneinander lernen, anstatt einander zu verurteilen
Natürlich ist es gut, wenn immer mehr Menschen ein Umweltbewusstsein entwickeln. Schließlich geht es dabei nicht nur um uns, sondern um die Zukunft unseres Planeten. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass Diskussionen produktiver verlaufen würden, wenn sie sich nicht zum Verhör werden. Anstatt uns gegenseitig zu beschuldigen, könnten wir voneinander lernen. Schließlich lässt Kritik sich wesentlich besser annehmen, wenn sie sich nicht wie ein Angriff, sondern wie ein guter Ratschlag anfühlt.
Auch ich esse gelegentlich Avocados, fliege mit dem Flugzeug und kaufe Lebensmittel, die in Plastik verpackt sind. Doch anstatt dafür kritisiert zu werden, bekomme ich lieber Tipps zur Verbesserung. Welcher Aufstrich ist mindestens genauso lecker wie Avocado-Creme? Wo kann ich günstige Zugticktes kaufen und wo finde ich endlich einen Brokkoli, der nicht in Plastik verschweißt ist? Ob ich diese Tipps am Ende umsetze, bleibt meine Entscheidung. Denn was anderen leichtfällt, ist für mich vielleicht ein unmöglicher Verzicht. Und ist es letztendlich nicht besser, wenn jeder soviel tut wie er kann, statt dass drei Leute probieren, alles richtig zu machen und der Rest nach ihren Fehlern sucht?