Na, wie oft sagst du diese Floskel „Nee, danke, ich schaffe das schon“, obwohl du eigentlich Unterstützung gut gebrauchen könntest? Ohne dir zu nahetreten zu wollen, wahrscheinlich ziemlich oft. Damit bist du nicht allein! Sehr vielen Menschen fällt es unglaublich schwer, Hilfe anzunehmen. Dabei kennen wir doch alle diese Momente: Der Umzugskarton ist eigentlich zu schwer, die To-do-Liste quillt über oder wir stecken emotional in der Klemme. Und trotzdem winken wir ab, wenn uns jemand Hilfe anbietet. Dabei ist es völlig normal und sogar gesund, sich Unterstützung zu holen.
Denn der Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen, und eigentlich sollte gegenseitige Unterstützung für uns selbstverständlich sein. Doch irgendwo auf dem Weg haben wir verlernt, Hilfe als etwas Positives wahrzunehmen. Doch was genau hält uns davon ab? Nun, die Gründe dafür sind komplexer, als man zunächst denken würde.
#1
Du fürchtest, dein Selbstbild zu verlieren
Tief in unserem Inneren tragen wir alle ein bestimmtes Bild von uns selbst – vielleicht als die Person, die immer einen Rat parat hat, die stark ist oder die anderen hilft. Nehmen wir nun selbst Hilfe an, kratzt das möglicherweise an dieser sorgsam aufgebauten Identität. Besonders Menschen, die in ihrer Familie oder im Freundeskreis oft die „Fels in der Brandung“-Rolle einnehmen, kennen diese Angst: Wer bin ich noch, wenn ich zugebe, dass ich auch mal Unterstützung brauche? Dabei vergessen wir, dass gerade das Zulassen von Verletzlichkeit uns als Persönlichkeit komplexer und interessanter macht.
#2
Die Angst vor unerwarteten Erkenntnissen
Manchmal vermeiden wir es, Hilfe anzunehmen, weil wir insgeheim befürchten, dabei auf unangenehme Wahrheiten zu stoßen. Wenn wir zum Beispiel bei der Arbeit um Unterstützung bitten, könnte sich herausstellen, dass jemand anders die Aufgabe viel effizienter löst – und wir müssten uns mit unseren eigenen Unzulänglichkeiten auseinandersetzen. Oder wenn wir uns bei Beziehungsproblemen jemandem anvertrauen, werden wir vielleicht mit Perspektiven konfrontiert, die wir lieber verdrängt hätten. Diese unbewusste Angst vor Selbsterkenntnis kann ein mächtiger Blocker sein.
#3
Du hast ein verzerrtes Bild von Unabhängigkeit
In vielen Köpfen spukt noch immer der Mythos vom „selfmade“-Menschen herum – jemand, der es ganz alleine nach oben geschafft hat. Oder du wurdest von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen, die dir vorgelebt hat, alles alleine zu schaffen. Was dabei oft übersehen wird: Niemand ist wirklich komplett unabhängig. Selbst die erfolgreichsten Menschen hatten häufig Mentor*innen, Unterstützung, und Menschen, die an sie geglaubt haben. Paradoxerweise zeigt es oft mehr Stärke, sich einzugestehen, dass wir Teil eines sozialen Gefüges sind, als krampfhaft an einer Illusion von totaler Unabhängigkeit festzuhalten.
Im Video: So wirkungsvoll ist Journaling
Wie und warum sich Journaling so positiv auf deine psychische Gesundheit auswirkt, erklären wir dir im Video.
Und wenn du direkt loslegen willst, können wir dir dieses 6-Minuten-Tagebuch sehr ans Herz legen:
#4
Die versteckte Angst vor Nähe
Wenn wir Hilfe annehmen, entsteht automatisch eine gewisse Intimität. Wir zeigen uns verletzlich, lassen jemanden an unseren Problemen teilhaben und schaffen damit Verbindung. Für Menschen, die in der Vergangenheit schmerzhafte Erfahrungen mit Nähe gemacht haben oder die es gewohnt sind, alles mit sich selbst auszumachen, kann genau diese entstehende Nähe beängstigend sein. Lieber auf Distanz bleiben und keine Hilfe annehmen, als sich zu öffnen und damit möglicherweise verletzbar zu machen – auch wenn wir uns damit selbst im Weg stehen.
#5
Das unterschätzte „Helfersyndrom“
Überraschenderweise sind es oft gerade die Menschen, die selbst ständig anderen helfen, die sich am schwersten damit tun, Hilfe anzunehmen. Dahinter steckt manchmal ein unbewusstes Muster: Wer immer der*die Gebende ist, behält die Kontrolle und muss sich nicht mit den eigenen Bedürfnissen auseinandersetzen. Das ständige Helfen wird zur Strategie, um die eigene Hilfsbedürftigkeit zu überdecken. Diese Menschen haben oft schon früh gelernt, dass sie nur durch Geben wertvoll sind – und das Annehmen von Hilfe würde dieses tief verwurzelte Muster ins Wanken bringen.
Ein Tipp:
Warum ich mehr Hilfe annehmen möchte
Wer kennt es nicht – dieses „Alles gut, ich krieg das hin“, auch wenn unser wohl konstruiertes Kartenhaus gerade zusammenbricht. Ich dachte lange, dass ich damit stark und unabhängig (und automatisch supercool) rüberkomme, aber mir dämmert so langsam, dass das absoluter Quatsch ist. Nicht nur, dass wir Hilfe, die wortwörtlich eine WhatsApp-Nachricht oder die Nachbartür entfernt liegt, idiotischerweise verschmähen. Wir verpassen wir oft die Chance auf etwas viel Wertvolleres: echte Verbindung.
Denn manchmal sind wir wirklich komisch: Wir sehnen uns nach tiefen, authentischen Beziehungen, halten andere aber gleichzeitig auf Distanz, indem wir ihre Hilfe ablehnen. Dabei übersehen wir etwas Entscheidendes: Wenn wir Unterstützung annehmen, schenken wir unserem Gegenüber einen wertvollen Vertrauensbeweis. Wir sagen damit: „Ich vertraue dir genug, um dir auch meine verletzliche Seite (und nicht vorhandenen Muskeln) zu zeigen.“ Und das kann doch nur ein Gewinn sein, nicht wahr?
Spannend ist auch die andere Seite: Erinnere dich mal an Situationen, in denen dir eine Freundin erlaubt hat, ihr zu helfen. War das nicht eigentlich ein richtig schönes Gefühl? Wenn wir anderen helfen dürfen, fühlen wir uns gebraucht, wertgeschätzt und verbunden. Indem wir also Hilfe annehmen, machen wir anderen tatsächlich ein Geschenk – wir lassen sie spüren, dass sie wichtig sind und einen Unterschied machen können.
Und mal ganz ehrlich: Die coolsten Menschen sind doch oft nicht die, die immer unnahbar und perfekt erscheinen. Es sind die, die auch mal zugeben können, dass sie eben nicht alles im Griff haben. Die sich trauen zu sagen: „Puh, ich könnte gerade echt Hilfe gebrauchen.“ Diese Authentizität macht sie in meinen Augen nicht schwächer – sondern ganz im Gegenteil sogar. Sie zeigt echte innere Stärke und schafft die Art von Verbindung, nach der wir uns alle insgeheim sehnen.
Also vielleicht sollten wir aufhören, das „Alles alleine schaffen“ als Zeichen von Coolness zu sehen. Wahre Stärke liegt manchmal genau darin, die helfende Hand zu ergreifen, die sich uns entgegenstreckt. In einer Welt, die so oft von Individualismus und Konkurrenzdenken geprägt ist, kann das Annehmen von Hilfe sogar ein kleiner Akt der Revolution sein. Und letztendlich macht uns das nicht abhängiger – sondern reicher an echten, tiefen Beziehungen. Und weniger Rückenschmerzen, weil man die Kartons nicht alleine in den dritten Stock schleppen muss.