Es gibt Geheimnisse, die schleppen wir ein ganzes Leben lang mit uns herum. Sie sind gut versteckt und verriegelt in der hintersten Ecke des Gehirns aufbewahrt und melden sich – wenn es gut läuft – nie wieder. Dementsprechend schwierig ist es, diese gut gehüteten Dämonen wieder auszugraben und zu erforschen. Ein US-Psychologe hat es sich jedoch zur Aufgabe gemacht, die dunklen Ecken menschlicher Seelen zu erforschen – mit Erfolg und verblüffenden Ergebnissen ... Für welche Geheimnisse sich die Menschen am meisten schämen und quälen und wie man mit Scham umgehen kann.
Michael Slepian ist New Yorker Psychologe und Nachwuchsprofessor an der Columbia University. In den USA ist er ein bekannter Experte für die dunklen, verborgenen Ecken der Seele, denn er beschäftigt sich seit Jahren mit den tiefsten Geheimnissen der Menschen und schafft es, sie ihnen zu entlocken. 2017 entwickelte er daraus ein komplettes Inventar, den „Common Secrets Questionnaire“, in dem er 38 Arten von Geheimnissen auflistet.
Welche Geheimnisse quälen uns am meisten?
2019 untersuchte Slepian in einer Studienreihe gemeinsam mit Kollegen, welche Geheimnisse am mächtigsten sind, die größten Schuldgefühle hervorrufen und die Menschen am meisten quälen. Dafür wurden rund 1000 Menschen mit dem „Common Secrets Questionnaire“ befragt, ob sie derzeit etwas geheim hielten, wie oft sie diese Sache in den vergangenen 30 Tagen verborgen hatten und wie oft sie ihnen darüber hinaus in den Sinn gekommen war. Das Ergebnis: Die qualvollsten Geheimnisse drehen sich stets um eines von drei großen Themen: schlechte, verwerfliche Taten, Body Issues oder psychische Erkrankungen und Traumata. Wir erklären dir, was genau hinter diesen drei Hauptthemen steckt und wie sich aus ihnen schlussendlich 9 Geheimnisse ergeben, die Menschen für immer verschweigen wollen.
Platz 3
Den dritten Platz teilen sich:
- Trauma
- Sucht
- und andere psychische Leiden
Süchte und psychische Störungen gelten in der Gesellschaft noch viel zu oft als schwach und persönliches Versagen. Dieses Stigma übernehmen häufig auch die Erkrankten selbst. Sie verheimlichen ihre Probleme und schämen sich – ein Teufelskreis, der nicht selten in Depressionen enden kann, beschreibt die Studie. Hinter vielen dieser psychischen Erkrankungen stecken frühe Traumata. Obwohl es widersprüchlich erscheint, hängen Traumafolgen wie die posttraumatische Belastungsstörung vor allem mit Schamgefühlen eng zusammen.
Platz 2
- Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen
- Karriere
- Geld
Die Befragung des „Geheimnis-Psychologen“ zeigt außerdem: Um kein Geheimnis kreisen die Gedanken so unablässig wie um die Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen. Zwar gibt es viele Menschen, die offen mit ihren Unzufriedenheiten umgehen. Doch jene, die ihre Scham um eine vermeintlich krumme Nase oder die Figur verstecken, also verheimlichen wollen, krämen dieses Geheimnis so sehr, dass nicht selten starke Schamgefühle in ihnen keimen. Ebenso verheimlicht werden oft und gerne die Karriere und das Konto. Diese Statussymbole sind weitaus weniger schambehaftet als die beschriebene Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen, treiben aber dennoch viele Menschen um, wie die Studie herausfand.
Journaling gilt in der Psychologie als zuverlässiges Tool, um den Kopf freizubekommen und Sorgen und Ängste weniger bedrohlich wirken zu lassen. Was noch hinter dem Tagebuchschreiben steckt und wie du am besten beginnst, siehst du im Video:
Platz 1
- Gewalt
- Selbstverletzung
- Untreue
Um diese drei Themen kreisen die meisten quälenden, beschämenden Gedanken, heißt es in der Studie. Einem Menschen Gewalt angetan zu haben, sei das beschämendste aller Geheimnisse. Und auch hier ergibt sich ein gefährlicher Teufelskreis; Gewalt kann für Menschen ein wirksames Mittel gegen Scham sein, das aber langfristig noch mehr Scham nach sich zieht. Auch Gewalt gegen sich selbst (Autoaggressionen) oder Suizidversuche zählen dazu. Nach der Körperverletzung wurde Untreue als besonders belastendes Geheimnis ausgemacht. Dabei muss es sich allerdings nicht immer um Sex drehen. Auch emotionale Untreue, also sich in eine andere Person zu verlieben, zählt zu diesem Thema. Was in einer Partnerschaft als schlimmer empfunden wird, hängt übrigens unter anderem vom Geschlecht ab, wie Studien nahelegen. Männer reagieren demnach sensibler auf sexuelle Untreue und Frauen auf emotionale Untreue.
Geheimniskrämerei macht einsam
Eine spannende Erkenntnis rund um Geheimniskrämerei offenbarte Slepian in einer weiteren Studie 2017. Wie groß ein Geheimnis von außen erscheint, sei für das eigene Leid offenbar egal. Vielmehr komme es darauf an, wie oft die Gedanken darum kreisen, so Slepian. Und das gilt nicht nur für Situationen, in denen Menschen ihr Geheimnis unbedingt wahren wollen, sondern auch ohne erkennbaren Anlass. Denn ob in einer heiklen Situation oder nicht, die Gedanken verschwinden nicht einfach, erklärt der Psychologe. Sie würden ein Eigenleben führen, „sie bleiben bei uns.“ Die wichtigste Erkenntnis des Psychologen über Geheimnisse: „Nicht das Verheimlichen, sondern mit dem Geheimnis zu leben und ständig daran zu denken, lastet auf der Seele.“ Menschen würden sich nicht mehr authentisch fühlen und es macht müde und einsam, so Slepian.
Geteiltes Leid ist halbes Leid
So schwer es auch fällt, am Ende gibt es mehr Gründe ein Geheimnis zu teilen, als es ein Leben lang mit sich rumzuschleppen. Es ist eine Chance, sich von einer Last zu befreien und sich verstanden und unterstützt zu fühlen. „Eine geteilte Wirklichkeit sichert das Überleben in der komplexen sozialen Welt“, erklärt der Psychologe Slepian.
