Nachdem ich in meiner blutrünstigen Jugend am liebsten die Bücherregale von meinen Eltern und meiner großen Schwester geplündert, und Krimis, Thriller und Horror-Romane verschlungen habe, lese ich heute komischerweise besonders gerne Young-Adult-Bücher. Ich liebe den feinfühligen Umgang mit ernsten Themen, die jedoch nicht mit einer Holzhammer-Methode auf den Leser eingeprügelt werden, sondern sich selbstverständlich entwickeln.
Mit jugendlichen Protagonisten haben Autoren die Möglichkeit, abseits von Fragen rund um Karriere und Familiengründung in die Psyche von Figuren einzutauchen, die gerade erst dabei sind, sich selbst zu finden. Daher spielen Identitätskrisen, Selbst- und Fremdwahrnehmung und mentale Gesundheit oft eine große Rolle in Jugendbüchern. Von Tabuthemen wie Selbstmord über Mobbing bis hin zu Depressionen bilden die folgenden sechs Romane sehr realistisch ab, mit welchen Problemen (nicht nur) Teenager zu kämpfen haben – und liefern eine gute Grundlage, um über diese Dinge zu sprechen.
#1 „Tote Mädchen lügen nicht“ – Jay Asher (2007)
Hannah Baker, Schülerin der Liberty High School, hat Selbstmord begangen. Ihre genau 13 Gründe hat sie zuvor auf Kassetten aufgenommen, die nun nacheinander den Mitschülern zugespielt werden, die Hannahs Meinung nach für ihre drastische Entscheidung verantwortlich sind.
Warum das Buch so hilfreich ist?
„13 Reasons Why“ (Originaltitel)
Den meisten dürfte „Tote Mädchen lügen nicht“ vor allem durch die auf dem Buch basierende Netflix-Serie bekannt sein. Zwar sorgte beides wegen der sehr expliziten Darstellung von Selbstmord und Vergewaltigung auch für Wirbel, doch viele feiern das Buch und die Serie für die offene Art, mit der Tabuthemen behandelt werden. Die Geschichte von Hannah zeigt, dass Mobbing nicht nur scheinbare Außenseiter betrifft, sexuelle Belästigung eine Menge anrichtet und die Grenzen zwischen Opfern, Tätern und tatenlosen Mitwissern verschwimmen. Die anfangs fröhliche und beliebte Schülerin wird in einen Strudel aus Situationen gezogen, die einzeln genommen vielleicht harmlos wirken, in ihrer Summe aber zu Angst, Depression und Selbsthass geführt haben.
Zitat: „Die Art von einsam über die ich rede ist, wenn man sich fühlt als hätte man nichts mehr übrig. Nichts und niemanden. Als würde man ertrinken und niemand wirft dir eine Leine zu.“
#2 „All die verdammt perfekten Tage“ – Jennifer Niven (2015)
Theodor Finchs Gedanken drehen sich ständig um Selbstmord. Er sammelt kuriose Fakten über den Freitod und wägt ab, welche Methode wohl die beste für ihn sei. Als er im Zuge dessen eines Tages auf dem Sims des Glockenturms seiner High School steht, ist er jedoch nicht alleine. Ihm gegenüber steht Violet Markey, die vor etwa einem Jahr ihre Schwester und beste Freundin bei einem Autounfall verloren hat. Die beiden freunden sich an und verlieben sich schließlich ineinander. Doch währen Violet ihre Trauer nach und nach überwindet, wird Finch immer mehr in seine Depression hineingezogen.Warum das Buch so hilfreich ist?
„All the Bright Places“ (Originaltitel)
Was „All die verdammt perfekten Tage“ mit aller Deutlichkeit zeigt, ist, dass psychische Erkrankungen viele Ausprägungen haben. Und jeden treffen können – vom gehänselten Schulaußenseiter aus verkorkstem Elternhaus bis hin zur allseits beliebten Cheerleaderin. Erst, wenn Betroffene den Mut fassen, sich ihren Mitmenschen zu öffnen und die Angehörigen das Verständnis haben, zuzuhören, ist ein Ausweg möglich. Jennifer Nivens Buch ist ein nahegehendes Plädoyer dafür, das Stigma um Depressionen, Borderline-Störungen und sonstige mentale Krankheiten aufzubrechen – und das, ohne in Klischees wie „Liebe heilt alle Krankheiten“ zu verfallen. Zitat: „Meiner Erfahrung nach haben die Leute mehr Mitgefühl, wenn sie sehen können, wie man leidet, und zum hunderttausendsten Mal wünsche ich mir, ich hätte Masern oder Mumps oder irgendeine andere, problemlos zu begreifende Krankheit, nur um es mir leichter zu machen.“
#3 „Das also ist mein Leben“ (auch: „Vielleicht lieber morgen“) – Stephen Chbosky (1999)
Charlie ist ein introvertierter, einsamer Teenager, dessen bester und einziger Freund Selbstmord begangen hat. Als er sein erstes Jahr an der High School beginnt, verarbeitet er seine Gedanken und Erfahrungen, indem er Briefe an eine unbekannte Person schreibt.
Warum das Buch so hilfreich ist?
„The Perks of Being a Wallflower“ (Originaltitel)
Wie es häufig bei Betroffenen einer posttraumatischen Belastungsstörung der Fall ist, zeigt Charlie ebenfalls Anzeichen für eine Depression und Angststörung. Durch die feinfühlige Beobachtungsgabe des Protagonisten werden auch Themen wie Drogenkonsum, Sexualität, Körperbild und Essstörungen beschrieben – ohne dass die entsprechenden Charaktere auf ihr jeweiliges „Problem“ reduziert werden.Zitat: „Glaubst du die Leute würden noch mit einem reden, wenn sie wüssten, wie verrückt man wirklich ist?“
#4 „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“ – John Green (2017)
Aza Holmes’ Gedanken kreisen die meiste Zeit darum, welche Bakterien in ihr und um sie herum leben, ob sie überhaupt noch sie selbst ist, wenn „die Hälfte der Zellen, die zu uns gehören, gar nicht unsere sind“, und warum sie so viel besser darin war, ein Kind zu sein, als eine High-School-Schülerin. Neben ihren Gedankenspiralen sieht sie sich jedoch auch mit einem Detektivfall konfrontiert: Der reiche Vater eines früheren Spielkameraden ist spurlos verschwunden – und das Lösegeld könnte Aza und ihrer besten Freundin Daisy ganz schön weiterhelfen.Warum das Buch so hilfreich ist?
„Turtles all the Way Down“ (Originaltitel)
Bestseller-Autor John Green („Das Schicksal ist ein mieser Verräter“) befasst sich in allen seinen Büchern mit der mentalen Gesundheit seiner Figuren. Mit Aza, so der Autor selbst, beschreibt er allerdings eine Störung, die seiner eigenen besonders nahe kommt. Wie die 16-Jährige leidet John Green an einer Zwangsstörung und kann seinen eigenen Gedankenspiralen nicht entkommen. Für beide geht die OCD mit depressiven Phasen einher. Was Aza und „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“ so besonders macht, ist, dass nicht nur die Hauptfigur sehr offen mit ihrer Erkrankung umgeht, sondern das Buch einen Einblick in mentale Muster bietet, die sonst nur schwer greifbar sind.Zitat: „Schmerzen – physische oder psychische – stellen uns unter anderem vor die Herausforderung, dass wir sie eigentlich nur durch Metaphern ausdrücken können. Schmerz lässt sich sprachlich nicht erfassen wie ein Tisch oder andere Gegenstände. In gewisser Weise ist Schmerz das Gegenteil von Sprache.“
#5 „Eine echt verrückte Story“ – Ned Vizzini (2006)
Craig ist 15 Jahre alt, wegen seines Eignungstests für eine Elite-Schule extrem gestresst und leidet unter Depressionen. Als ihm eines Abends alles zu viel wird, beschließt er Selbstmord zu begehen. Bevor er jedoch seinen Plan in die Tat umsetzt, ruft er bei einer Selbstmord-Hotline an, wo ihm geraten wird, die nächste Notaufnahme anzusteuern. Anschließend verbringt er eine Weile in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung für Erwachsene – der Flügel für Jugendliche wird gerade renoviert.Warum das Buch so hilfreich ist?
„It's Kind of a Funny Story“ (Originaltitel)
Craig hat, wie so viele von Depressionen geplagte Menschen, das Gefühl, mit niemandem reden zu können. Von ihm wird, so sein Eindruck, einfach erwartet, dass es ihm mit Hilfe von Medikamenten schon besser gehen wird. Immerhin liegt eine Depression nur daran, dass chemisch in seinem Kopf etwas nicht stimmt, oder?
Traurige Brisanz erhielt das Buch vor allem dadurch, dass Autor Ned Vizzini, der in „Eine echt verrückte Story“ seine eigenen Erfahrungen mit Depressionen und einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik verarbeitete, sich 2013 selbst das Leben nahm.
Zitat: „Ich hab keine Ahnung, wie viel davon wirklich auf Chemie beruht. Manchmal denke ich, Depression ist auch bloß eine Art, mit der Welt klarzukommen. Die einen betrinken sich, andere nehmen Drogen, andere kriegen Depressionen. Es gibt so viel Zeug da draußen, dass man einfach irgendwas tun muss, um damit fertig zu werden.“
#6 „Der Fänger im Roggen“ – J. D. Salinger (1951)
Holden Caulfield ist wegen schlechter Noten in fast allen Fächern von seiner Schule geflogen – nicht zum ersten Mal. Da er jedoch keine Lust auf die Reaktion seiner Eltern hat, das selbstdarstellerische Gehabe seiner Schulkameraden allerdings auch satt ist, irrt er drei Tage lang durch Manhattan und sehnt sich danach, etwas Authentisches zu fühlen.Warum das Buch so hilfreich ist?
„The Catcher in the Rye“ (Originaltitel)
Der Tod seines kleinen Bruders ist wohl einer der Gründe dafür, dass Holden sich zurückzieht. Er weigert sich, dem Kreis des Lebens zu folgen und seine Kindheit und Jugend hinter sich zu lassen – schließlich wurde dies auch seinem kleinen Bruder verwehrt. Er isoliert sich immer mehr von seinen Mitmenschen und seiner Umgebung – ein Gefühl, dass viele Menschen mit Depressionen sicherlich kennen – und bleibt auch nicht von suizidalen Gedanken verschont.Zitat: „Manche Sachen sollten so bleiben, wie sie sind. Man sollte sie in einen großen Glaskasten stecken und so lassen können. Natürlich ist das unmöglich, das weiß ich, aber ich finde es trotzdem schade.“
Warum sind depressive Protagonisten wichtig?
Ich hätte noch ewig weiterschreiben können. Diese Liste hätte auch weit mehr Bücher umfassen können. Doch der wichtigste Punkt wird auch so mehr als deutlich. Was all diese Romane miteinander gemeinsam haben, ist, dass sie sowohl Betroffenen als auch Angehörigen – und wahrscheinlich war jeder von uns auf die eine oder andere Art schon mal mit psychischen Erkrankungen konfrontiert – einen Anlaufpunkt geben. Über „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“, in dem John Green seine eigene Störung beschreibt, sagte sein Bruder Hank Green, dass er zwar sein Leben lang mit John über die OCD gesprochen habe, ihn aber erst nach dem Lesen des Romans wirklich verstanden habe. Es ist schwer, die Gefühle, Ängste und Schmerzen einer Depression zu beschreiben. Umso besser, dass einige es bereits für uns gemacht haben! Doch Bücher über Charaktere mit Depressionen sind mehr als bloß Selbsthilfebücher für Betroffene. Auch ohne eine psychische Erkrankung profitiert man als Leser davon, dass das Innenleben einer Figur beleuchtet wird. Man erkennt sich in den Beobachtungen und Gedankengängen mal wieder, mal nicht. Und eine Geschichte darüber, wie ein Problem mehr und mehr an die Oberfläche drängt, bis es nicht mehr ignoriert werden kann, ist nebenher auch noch spannend und universell.Hast du eins dieser Bücher gelesen? Hast du andere Favoriten zu dieser Thematik? Verrate es mir gerne in den Kommentaren bei Facebook!