Wer ist eigentlich dein Lieblingsmensch? Wahrscheinlich hast du schnell eine Antwort parat. Doch es lohnt sich, über diese Antwort noch mal nachzudenken...
Im Supermarkt an der Kasse stehe ich wie immer eine kleine Ewigkeit an. Irgendwo zwischen gekühlten Getränken, Tiefkühltruhen voller Eis und hohen Gondelköpfen aus Pappe voller Popcorn mit Kokosgeschmack. Garantiert Handgemacht, steht auf der Verpackung, die mit ihrem Retro-Aufdruck suggerieren soll, dass der Prototyp einer Urmutter mit Schürze und Kupferkessel jedes einzelne Maiskorn mit viel Liebe selbst zu einem Popcorn ausgebrütet hat. Ich glaube der Verpackung kein Wort, weiß aber, dass ich irgendwann in einem schwachen Moment doch drauf reinfallen werde und mir garantiert handverlesenes Popcorn auf Goldpreisniveau in den Wagen legen werde, wohl wissend, dass das unter Garantie langweilig schmeckt. Spoiler: Ich werde Recht behalten.
Es ist wie immer Freitagabend, während die Schlange vor mir kriecht und jene hinter mir immer länger wird. Klar. Wer geht schon auf einem Freitagabend fürs Wochenende einkaufen? Es weiß doch jeder, dass das eine dumme Idee ist.
Die Geschwindigkeit, mit der es vorangeht, kommt dem Kontinentaldrift gleich und so bleibt mir die Zeit, mich in aller Ruhe umzusehen. Fast schon bin ich verführt, die Katzenhaare auf dem Hoodie des Mannes vor mir zu zählen, als mein Blick am Grußkartenständer hängen bleibt.
Das bunte Sammelsurium an Glückwünschen, kecken Witzen der Marke „Dad-Joke“ und gar nicht mal so tiefen Sinnsprüchen werden umrahmt von Trauerbekundungen und süßen Hundebabys in Pastell, die irgendeinem unbekannten Paar alles Gute zum 50. Hochzeitstag wünschen. Eine Mischung, die sich mir noch nie erschossen hat, aber was weiß ich schon von Postkartenpsychologie. Ich versuche gerade über die halbwelken Tulpen im Eimer nahe der Kasse meinen Blick zurück in meinen Wagen zu lenken, als dieser an einer Frage hängen bleibt, die auf einer dieser Karten prangert.
Wer ist Dein Lieblingsmensch?
„Wer ist Dein Lieblingsmensch?“ fragt die Karte in quietsche bunten Buchstaben, die über eine zauseligen und absurd fröhlichen Ratte mit Luftballons in der Hand stehen.
Ich mag diese Frage. Zwar weiß ich nicht, warum die Ratte so neugierig ist aber man erfährt im späteren Verlauf, wenn man so wie ich die Karte aus dem Ständer zupft, dass die Ratte die Frage auch gleich noch selbst beantwortet. „Du bist es!“ meint sie mit weit aufgerissenen, vor Freude schimmernden Knopfaugen und rosa Nase.
Die Frage ist gar nicht so dumm und ich wette, dass so ziemlich jeder eine Antwort darauf hat. Eine, die irgendwie naheliegt. An die Stelle des „Lieblingsmenschen“ rücken Namen. Die der besten Freundin, des eigenen Partners oder vielleicht der, der Kinder. Es ist sogar recht schwierig, den einen Lieblingsmenschen auszumachen, weswegen wir im Regelfall eine ganze Liste parat haben, die die Namen all jener Menschen trägt, die uns sehr nahe sind. Und den des Haustieres. Natürlich.
Jede Wette, die meisten von uns denken sich selbst nicht mit!
Wenn ich mich an einem solchen Abend im Supermarkt umdrehen und laut rufen würde: „Ihr alle hier, nennt mir eure Top 5 Liste der wichtigsten Menschen in eurem Leben“ würde ich vorher zwei Wetten auf die Antworten abschließen und ich wüsste, ich würde fast immer gewinnen. Die erste Wette würde behaupten: Ich weiß, dass jeder diese Top 5 Liste mit 5 Namen füllen wird. Die zweite Wette, und auf diese würde ich meinen Prachtpo setzen, würde lauten: Und ich wette, dass der eigenen Name bei niemandem mit auf dieser Liste steht.
Unsere Lieblingsmenschen sind die anderen. Jene, an denen wir all das Schöne, das Wertvolle, das Herzliche erkennen können. Es sind die Menschen, die uns wichtig sind, uns etwas geben, für uns da sind und denen wir immer sagen, dass sie vollkommen okay sind, so wie sie sind. Ja sogar, dass sie wegen ihrer Fehler und Unvollkommenheit doch erst zu diesem tollen Menschen auf unserer Liste geworden sind. Es sind die Menschen die wir lieben. Die wir achten. Denen wir mit Respekt begegnen. Die wir gut behandeln oder es zumindest immer versuchen.
Selbstwert ist kein Modetrend, sondern essentiell!
Unser eigener Name aber steht dort nicht und schlimmer noch, es käme uns meist nicht einmal in den Sinn, uns selbst mitzudenken, wenn wir an die wichtigsten Menschen denken. Wir schaffen es nicht auf die Liste. Ich kenne das, ich habe flockige 38 Jahre gebraucht um mal auf die Idee zu kommen, mich selbst ernst und wertig genug zu finden, um auf der Liste einen Platz zu ergattern. Das war wichtig. Wichtig für mich. Wichtig um aus einer gewalttätigen Beziehung rauszukommen. Wichtig um zu verstehen, dass ich mich vielleicht selbst retten muss, wenn niemand anderes es kann. Wichtig, um glücklich werden zu können. Weil Selbstwertgefühl eben nicht nur ein trendiges Wort, sondern essentiell ist.
Selbstwert bedeutet Respekt vor sich selbst und nicht nur vor anderen
Ich weiß, der Gedanke sich selbst genug wert zu sein um offen zu behaupten, man zähle zu seinen eigenen Lieblingsmenschen, ist überraschend erschreckend. Weil wir Selbstwert mit Egoismus verwechseln oder glauben, Egoismus wäre prinzipiell etwas Schlechtes. Was es nicht ist. Sich selbst auf die Liste zu setzen bedeutet, Respekt vor sich zu haben. Vor den eigenen Gefühlen, den Bedürfnissen und den Schwächen. Aber auch vor alldem, was einen stark und einzigartig macht. Es bedeutet, auf sich zu achten. Immer wieder aufzustehen, wenn man mal scheiterte, es neu zu versuchen, mutig zu sein, besser zu scheitern und dann noch mal wieder sich hochzurappeln.
Der wichtigste Mensch ist man selbst
Frauen werden dazu erzogen, sich zu kümmern. Um andere. Um ihre Umwelt, Männer, Freundinnen, Kinder, die eigenen Eltern und das Leben drum herum. Wozu wir nicht erzogen werden ist ein nötiges Maß an Selbstwert, ist das Vermögen „Nein“ zu sagen, zu gehen, wenn es uns nicht mehr guttut und dafür keine Entschuldigungen zu finden. Weil wir nicht lernen, dass unsere Bedürfnisse ernstgenommen werden dürfen von uns selbst. Dass wir ein Recht auf Freiheit im Handeln und Denken haben auch dann, wenn wir damit mal nicht alle immer nur glücklich machen. Dass der Respekt, den wir anderen entgegen bringen der ist, den wir auch uns selbst gegenüber haben sollten, ja sogar schulden. Damit wir nicht vor dem Spiegel stehen und nur die Stellen betrachten, die nicht perfekt sind. Mit uns nicht so hart ins Gericht gehen, wie wir es mit niemand anderen den wir mögen und brauchen tun würden. Uns nicht stets an das Ende aller Geschichten setzen und dass, was wir zu geben haben, raushauen, als stünden unsere Gefühle, die eigenen Kraft, unsere Liebe und Energie zum Ausverkauf.
Selbstwert bedeutet zu sehen und zu verstehen, dass der wichtigste Mensch in unserem Leben wir selbst sind. Denn wenn wir erst einmal weg sind, wie sollen wir dann noch etwas geben können? Eigentlich ist es so simpel. Eigentlich.
Manchmal vergesse ich, mir selbst genug wert zu sein
Ich vergesse das manchmal. Und mit manchmal meine ich: ziemlich oft. Ich vergesse, dass ich auch noch da bin. Dass es okay ist, nicht immer okay zu sein. Dass Gefühle zu haben und zu zeigen keine Schwäche ist und dass das Leben eben einen harten linken Haken hat und einen manchmal von den Füßen reißt, zu scheitern jedoch niemals etwas über meinen Wert aussagt. Ich vergesse das. Das liegt auch daran, dass ich als Kind gelernt habe, dass mein Wert im Einklang mit meinem Wohlverhalten steht. Später als dicke Frau, dass mein Wert angeblich an der Zahl auf der Waage hängt. Und noch später, als Lebensgefährtin, dass ich exakt so viel wert bin, wie mein Partner es mich wissen lässt, Männer mich attraktiv finden oder Frauen mich komplimentieren. Dass nichts von alledem stimmt, das zu lernen hat gute 38 Jahre gedauert und es brauchte am Ende erst eine toxische Beziehung voller psychischer Gewalt und einen elend langen und steinigen Weg daraus, um meinen Namen auf die Liste zu setzen.
Vielleicht ist sie deswegen so wichtig. Diese Liste. Um sich selbst daran zu erinnern, dass der einzige Mensch, der über den eigenen Wert bestimmen darf, man selbst ist und immer sein wird, weil man der wichtigste Mensch ist um den man sich kümmern muss. Tja. Und weil ich das manchmal vergesse, habe ich jetzt so eine dusselige Postkarte mit einer debil lachenden Ratte drauf an meinem Kühlschrank hängen, beim draufgucken immer einen kleinen „Ach ja“-Moment und die vage Vermutung, dass ein Freitagabend dann vielleicht doch der richtige Moment ist, um einkaufen zu gehen.
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