Heiraten ist fast schon armselig: eine überholte Tradition für Paare, die einen äußeren Zwang brauchen, um auch wirklich ihr Leben lang zusammenzubleiben. So dachte ich noch bis vor wenigen Jahren. Inzwischen muss ich eingestehen, dass ich vielen verheirateten Paaren lange unrecht getan habe. Obwohl ich nie von einer Hochzeit geträumt habe, trage ich seit Kurzem einen Verlobungsring.
In der Reihe „Ich steh’ dazu“ nimmt die desired-Redaktion kein Blatt vor den Mund. Egal, ob es um gesellschaftliche Tabuthemen, peinliche Erlebnisse oder persönliche Schwächen geht: Wir stehen einfach dazu! Erfahre, was uns bewegt und entdecke Themen, über die sonst nicht so offen gesprochen wird!
Zwischen Tüll und Tränen? Geh mir fort!
Meine Antipathie gegenüber Hochzeiten begann schon in meiner Kindheit. Während meine große Schwester bereits von ihrer Traumhochzeit fantasierte, war ich mir sicher: Das ist nichts für mich! Ein weißes Prinzessinenkleidchen tragen war für mich als kleiner Tomboy keine reizvolle Vorstellung. Auch wenn ich mich inzwischen femininer kleide als in meiner Kindheit, habe ich mir nie ein Hochzeits-Inspirations-Board auf Pinterest angelegt, jegliche Royal Wedding boykottiert und bei „Zwischen Tüll und Tränen“ schalte ich angewidert weg.
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Das romantisch verklärte „Gewaltverhältnis Ehe“
Mit meiner Anti-Heiraten-Einstellung war ich auch bei meinen Freunden gut aufgehoben. In den ziemlich linksalternativen Kreisen, in denen ich mich während meines Studiums bewegt habe, wurden gängige Beziehungskonzepte gerne infrage gestellt. Monogame heterosexuelle Beziehungen wurden gerne als „RZB“ (romantische Zweierbeziehung) verunglimpft – von Heiraten ganz zu schweigen.
In feministischen und kapitalismuskritischen Texten lernte ich, dass Heiraten lediglich der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise dient und sich im „Gewaltverhältnis Ehe“ patriarchale Strukturen manifestieren – alles unter dem Deckmantel der romantischen Verklärung. Eheschließungen galten bei uns nur als nachvollziehbar, wenn damit das Bleiberecht einer von Abschiebung bedrohten Person gerettet werden konnte. Und bei homosexuellen Paaren, weil ihnen dieses Recht lange verwehrt geblieben ist. Es ist daher kein Wunder, dass bis heute kein Einziger meiner um-die-30-jährigen Freunde geheiratet hat.
Ja, jetzt will ich doch!
Wie kommt es also, dass eine eingefleischte Heirats-Gegnerin wie ich plötzlich verlobt ist? Kam mein Traumprinz angeritten und hat mich überzeugt? Ein kleines bisschen war es tatsächlich so. Ja, ich hatte das Glück einen Partner zu finden, bei dem ich keine Zweifel habe, dass ich mit ihm mein ganzes Leben verbringen will. Bevor sich das hier aber so liest wie eine abgedroschene Rom-Com: In den letzten Jahren hatte sich meine Einstellung zum Heiraten auch unabhängig von meinem jetzigen Verlobten verändert. Nach einigen Jahren mit On-Off-Beziehungen und zahlreichen Online-Dates mit Typen, die sich bloß nie auf etwas Ernstes einlassen wollten, begann meine Heirats-Antipathie zu bröckeln. Es war zwar für eine Weile ganz nett, sich ein bisschen auszutoben, aber eigentlich sehnte ich mich doch insgeheim nach etwas Dauerhaftem. Auch gerne etwas so richtig Dauerhaftem.
Als ich meinen Partner kennenlernte, konnte ich auf einmal total nachvollziehen, warum Menschen heiraten. Klar, ich will mit diesem Menschen so sehr verbunden sein, wie möglich. Brauche ich dafür einen staatlichen Wisch? Nicht zwingend, aber es ist doch schön, zu wissen, dass er bald auch zu meiner Familie gehören wird, wir den gleichen Nachnamen tragen werden und ich bei einem Notfall im Krankenhaus Informationen erhalten kann. Abgesehen von diesen pragmatischen Gedanken finde ich es wunderschön, jetzt sagen zu können: Ich möchte deine Frau sein. Mein jüngeres Ich hätte sich bei diesem Satz gesträubt. Dass das nicht mehr so ist, liegt wohl tatsächlich daran, dass ich älter geworden bin. Bin ich jetzt also total verspießert und werde in ein paar Jahren mit zwei Kindern in einem Reihenhaus leben? Ich hoffe nicht. Allerdings gestehe ich ein: Mit dem Alter haben sich bei mir einige Ansichten geändert.
Überdenke festgefahrene Einstellungen
Was sich für manche wie das Verraten von einstigen Idealen anhören mag, ist für mich ein Zeichen von persönlicher Stärke. Es gehört ein gewisses Reflexionsvermögen und Mut dazu, Meinungen, die man einst vehement vertreten hat, zu revidieren. Allzu oft verharren wir in alten Denkweisen, um nicht im eigenen Umfeld anzuecken. Was werden meine Freunde von mir denken, wenn ich auf einmal mit einem Verlobungsring aufkreuze? Ein total bescheuerter Gedanke, den ich mir schnell aus dem Kopf schlug. Ich habe für mich gelernt: Wenn eine Heirat das ist, was dich glücklich macht, solltest du einfach mal drauf scheißen, was du zu einem anderen Zeitpunkt in deinem Leben darüber gedacht hast. Das macht dich nicht zu einer unglaubwürdigen Person, sondern zu einer, die sich weiterentwickelt.
Bildquelle: desired