Das Wort „Beziehungsunfähigkeit“ verbreitet sich in der heutigen Dating-Welt wie ein Lauffeuer als Erklärung für ein unstetes Liebesleben. Es heißt, die heutige Generation sei beziehungsunfähig, nicht mehr daran interessiert, sich dauerhaft zu binden und ziehe kurze Abenteuer tiefgehenden Beziehungen immer öfter vor. Doch ist das wirklich so? Inwieweit hat sich die Liebe verändert? Wir haben mit einem Paarberater und Single-Coach über das Phänomen „Beziehungsunfähig“ gesprochen und interessante Antworten erhalten.
„Liebe macht glücklich“ so Beziehungsunfähigkeit“ befragt und Interessantes herausgefunden.
Das Wort „Beziehungsunfähigkeit“ ist derzeit in aller Munde. Doch was wird darunter überhaupt verstanden?
Eric Hegmann: Beziehungsunfähigkeit ist ein Unwort. Ich würde tatsächlich nicht jedem Menschen das gleiche Beziehungspotential einräumen, beziehungsfähig sind wir aber grundsätzlich alle. Der Wunsch nach Bindung und Nähe in einer Gruppe, vorzugsweise in der Zweierbeziehung, ist uns evolutionär einprogrammiert. Wenn sich plötzlich ganz viele Menschen selbst als beziehungsunfähigkeit diagnostizieren, dann drückt das sehr deutlich aus, wie stark dieses Bedürfnis ist, irgendwo dazuzugehören – selbst wenn es „nur“ in der Gruppe der Beziehungsunfähigen ist. Letztlich ist diese Selbstdiagnose eine vorgeschobene Entschuldigung, sich nicht mit den eigenen Bedürfnissen auseinanderzusetzen. Selbstverständlich gibt es Fälle, wo traumatische Erlebnisse zu Bindungsproblemen führen. Nach meiner Erfahrung sind aber die, die sich zu den Beziehungsunfähigen zählen, vor allem bewusst oder auch unbewusst bindungsängstlich oder bindungsvermeidend. Das ist ihnen oft nicht klar, weil sie durchaus eine aufregende Paar-Dynamik erleben in ihren Beziehungen, die allerdings nur wenige Wochen oder Monate andauern. In diesen Partnerschaften wünscht sich einer meist mehr, der andere weniger Nähe. Beklagt wird dann Unverbindlichkeit oder „Ich gerate immer an die Falschen!“. Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass immer wieder ängstliche und vermeidende Bindungstypen aufeinandertreffen und sich gegenseitig permanent anziehen und abstoßen. Dadurch bestätigen sie sich in ihrem Glaubenssatz und erfahren, dass das immer wieder geschieht. Das betrifft wohl alle Singles. Sie übersehen dabei, dass die Menschen mit sicherer Bindungshaltung in Beziehungen leben und deshalb nur kurz auf den Single-Trampelpfaden zu finden sind. Das ist die Mehrheit der Bevölkerung: Menschen, die vor Nähe und Geborgenheit keine Furcht haben und Partner wählen, die an ihnen tatsächlich interessiert sind – statt vermeintlichen Prinzen und Prinzessinnen hinterherzujagen, die nur die ersten Wochen perfekt sind. Dann wird plötzlich aus dem Traumpartner wieder der „Falsche“. Das ist aber kein Schicksal und Amor ist auch nicht blind: Aus dem Muster kann jeder ausbrechen, wenn er denn wirklich möchte.
Wie hat sich die heutige Generation in Sachen Liebe verändert? Besteht überhaupt noch der Wunsch nach einer festen, langlebigen Partnerschaft?
Eric Hegmann: Der Wunsch nach Nähe und Liebe ist unverändert stark. Eine glückliche Beziehung steht auf der Wunschliste der meisten Menschen ganz oben. Auf der einen Seite ist er so stark ausgeprägt, dass die Liebe geradezu disneyfiziert und überromantisiert wird und der Partner allen Anforderungen genügen soll, für die unsere Großeltern noch ein ganzes Dorf zur Verfügung hatten; auf der anderen Seite sehen wir uns aber auch selbst in der Pflicht, uns zu perfektionieren und hochzurüsten, um diese gewaltigen Anforderungen erfüllen zu können. Einfach ist tatsächlich anders – vor allem, weil viele nicht mit Rollenvorbildern gesegnet sind, denen sie nacheifern könnten. Und wer den fiktiven Paarbeziehungen aus den Medien, seien es Promis oder Filme und Serien, nacheifern möchte, wird immer an der Wirklichkeit scheitern.
Welche Werte zählen heute in einer Partnerschaft?
Eric Hegmann: Ganz oben stehen Treue und gegenseitige Achtsamkeit. Die meisten Paare trennen sich wegen mangelnder Aufmerksamkeit und Zuneigung sowie Untreue. Für Frauen muss der Partner vor allem verlässlich, verbindlich, liebevoll und vertrauenswürdig sein. Männer wünschen sich in erster Linie eine fürsorgliche Partnerin, mit der Konflikte unkompliziert zu lösen sind.
Die neue Generation strebt immer mehr danach, sich selbst zu verwirklichen und die persönliche Entwicklung auszuleben. Inwieweit lässt sich das (nicht mehr) mit einer Partnerschaft vereinbaren?
Eric Hegmann: Auf dem Singlemarkt sind viele Prinzessinnen und Prinzen, die sich wechselseitig übereinander beklagen. Die Prinzen haben Angst, etwas zu verpassen. Die Prinzessinnen haben Angst, nicht zu bekommen, was sie sich wünschen. Was sie glauben, in einer Partnerschaft erleben zu müssen, stammt aus dramaturgisch aufpolierten Geschichten aus den Medien und nicht aus erlebten Vorbildern. Das Spannende im Gewöhnlichen zu finden, dem Glück nicht hinterherzujagen, sondern Zufriedenheit genießen zu können, macht deshalb vielen Paaren schwer zu schaffen. Partner dürfen sich auch einmal richtig doof finden, das muss kein Beziehungsaus darstellen. Uns wird in jeder Lebenswirklichkeit erklärt, wir müssten das Beste erreichen und dürfen uns nicht mit weniger zufrieden geben. Eine weitreichende Entscheidung und Verpflichtung für einen Menschen, mit dem wir Jahrzehnte, am liebsten das ganze Leben zusammen sein möchten, überfordert da schnell. Das kann man als Luxusproblem abtun, das wird aber nicht der aufrichtigen Sinnsuche dieser Generation gerecht.
Stimmt es, dass sich heute niemand mehr so einfach mit einem Partner zufrieden gibt und immer daran denkt, noch etwas Besseres zu finden?
Eric Hegmann: Die allermeisten Singles beklagen eher Gelegenheiten, passende Partner kennenzulernen. Aus wie vielen Matches wird letztlich kein Date, weil die Personen in Wirklichkeit vergeben sind und nur einen Ego-Boost erleben möchten? Aber es gibt gewiss einige Menschen, die Partnersuche wie eine viel zu überwältigende Auswahl erleben. Die wischen sich in der Dating-App die Finger wund oder erleben immer wieder nach sechs aufregenden Wochen des Kennenlernens eine große Ernüchterung, wenn die rosarote Brille verblasst. Dann heißt es: Notbremse ziehen und von vorne beginnen. Das klingt zunächst nach einem Mangel an Verbindlichkeit, dahinter steckt jedoch die gewaltige Furcht, sich falsch festzulegen und etwas zu verpassen. Als Begründung heißt es oft: „Ja, die Liebe war dann doch nicht so groß.“ In Wahrheit war der Mut nicht groß genug, den Übergang von der romantischen und leidenschaftlichen Verliebtheitsphase zur tragfähigen, dauerhaften, partnerschaftlichen Liebe zu wagen.
Was halten sie von den neumodernen Beziehungstrends wie „Mingles“?
Eric Hegmann: Mit dem Beziehunsgmodell Mingle werden nach meiner Beobachtung mehr Paare unglücklich als glücklich. Theoretisch klingt das super. Beide Partner können sich aufeinander verlassen, sie gehen minimale Verpflichtungen bei größtmöglichen Freiheiten ein. In der Praxis erlebe ich aber, dass sich nahezu immer ein Partner irgendwann verliebt. Möglich, dass das mit den Bindungshormonen zu tun hat, die irgendwann einknicken, vielleicht liegt es auch daran, dass sich bei solchen Paarungen fast immer ein vermeidender und ängstlicher Bindungstyp zusammentun. Zwei vermeidende Typen, für die das Modell im Gedankenspiel ideal wäre, geben sich jedoch auf Dauer nicht genug Bestätigung, so dass die Fliehkräfte überwiegen.
Inwieweit wirkt sich das Internet und Dating-Apps wie Tinder und Co. auf diese Veränderungen aus?
Eric Hegmann: Nach meiner Überzeugung spiegeln sie die gesellschaftlichen Entwicklungen wieder. Sie stoßen sie aber nicht an. Vorläufer für Tinder gab es bereits vor einigen Jahren. Diese Angebote floppten. Auch weil schlicht keine Frau bereit war, mit einem Bild und ihren Aufenthaltsdaten in einem virtuellen Schaufenster einer Dating-App begafft zu werden. Das hat sich verändert. Der Einfluss von sozialen Medien auf unsere Wahrnehmung von Liebe und Partnerschaft ist viel größer geworden, denke ich. Der ständige Vergleich mit den hübschen Paaren aus der Werbung, dem Film oder auch den sozialen Netzwerken beschädigt das Selbstbewusstsein und unser Bild von einer „echten“ Beziehung.
Wieso fällt es uns heutzutage immer schwerer, sich zu binden und festzulegen? Sind Hausbau, Heiraten und Kinder out? Verpflichtungen nicht mehr erwünscht?
Eric Hegmann: Das stimmt so nicht, denke ich und die Zahlen des Statistischen Bundesamtes bestätigen meine Haltung. Es werden wieder mehr Ehen geschlossen, Ehen halten wieder länger – allerdings verschiebt sich das Alter für die Familienplanung immer weiter nach hinten. Da wir heute mehr Beziehungen im Leben führen als unsere Großeltern, haben wir auch häufiger Single-Phasen. Je nach Lebenssituation fällt eine solche Phase auch mal recht lang aus. Bis Mitte 30 ist der Wunsch nach Bindung weniger ausgeprägt. Das ist nicht neu. Allerdings sagen heute ab Ende 40 vermehrt Singles, dass sie keine Kompromisse mehr für eine Beziehung einzugehen bereit wären. Das ist eine eher neue Entwicklung.
Welche Rolle spielt Sex?
Eric Hegmann: Die aktuelle Studie der Sinus Milieus zeigt recht deutlich, dass die Mehrheit Treue für unabdingbar hält und nur eine monogame Beziehung eingehen möchte. Dass sie daran später oft scheitert, liegt an dem Druck von innen und außen, die Sexualität immerzu perfektionieren zu wollen. Keine Zeitschrift ohne Orgasmus-Tipps, Hilfe bei Lustlosigkeit und Anzeigen für Toys, die das Liebesleben wieder auffrischen sollen. Aber gerade Druck verhindert eine befriedigende Sexualität. Beziehungssex ist kein Wettkampf mit anderen Instagram-Paaren, sondern lebende Kommunikation zwischen den Partnern. Die soll auch schweißtreibend und leidenschaftlich sein, darf aber genauso ruhig und einfach nur liebevoll und verbindend sein. Interessant ist, dass offenbar in einigen Milieus die sexuelle Revolution nie angekommen ist. Dort wird alles abgelehnt, was nicht zum romantisierten Ideal passt. Das ändert sich jedoch durch Lebenserfahrung. Ein häufiger Satz in der Paarberatung lautet „Das habe ich mir anders vorgestellt“. Das Gute ist aber: Genau hier lässt sich ansetzen, denn die Beziehungswirklichkeit ist viel aufregender und befriedigender mit all ihren Möglichkeiten und Facetten als es uns der Disney-Film und die romantische Komödie glauben machen wollte. Der Spaß fängt nämlich nach dem „The End“ erst wirklich an.
Bildquelle: iStock/FlairImages, Eric Hegmann