Zarah Bruhn hat mit nur 32 Jahren eine bemerkenswerte Karriere hingelegt. 2022 wurde sie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung als Beauftragte für Soziale Innovationen berufen sowie in den Rat für nachhaltige Entwicklung im Kanzleramt. Bereits 2016 gründete sie ihr Start-up socialbee. Im desired-Interview erzählt Zarah Bruhn, warum sie so sehr für Soziale Innovationen brennt, welche Hürden ihr in der Start-up-Welt begegneten und zu welcher wichtigen Erkenntnis sie gelangt ist.
desired: Frau Bruhn, zu Beginn direkt die Frage: Was genau sind eigentlich „Soziale Innovationen"?
Zarah Bruhn: Der Begriff ist tatsächlich ein weiter Begriff. Soziale Innovationen sind prinzipiell alle technologischen oder nicht technologischen Innovationen, die die Gesellschaft bedeutsam zum Positiven verändern. Dabei geht es zentral um den Nutzen für alle, denn Soziale Innovationen schaffen häufig ein „social return on investment“. Konkret: Es werden zum Beispiel Gesundheitskosten eingespart, Emissionen gesenkt oder Arbeitslosenzahlen verringert. Es geht nicht unbedingt um den reinen Gewinn des Unternehmens. Früher waren Soziale Innovationen zum Beispiel Car-Sharing oder Mikrokredite – in den heutigen Zeiten gibt es einen ganzen Blumenstrauß. Beispielsweise im Integrationsbereich, wenn Geflüchtete in den Arbeitsmarkt integriert werden. Es gibt aber eben auch noch ganz andere Innovationen, die zum Beispiel darauf abzielen, CO₂ einzusparen oder Demokratie zu fördern, gegen Politikverdrossenheit, gegen gesellschaftliche Spaltung und viele weitere.
Also, man nimmt sich quasi einmal die gesellschaftlichen Herausforderungen und schaut, wer zum Hauptziel (nicht zum Nebenziel) den Wunsch hat, gesellschaftlich etwas zu verändern. Das ist ein Charakteristikum. Und jetzt arbeiten wir daran, zu definieren, welches Projekt wirklich so großes gesellschaftliches Potenzial besitzt, etwas zu verbessern, dass es förderwürdig ist und dass wir wirklich messen können, dass gesellschaftliche Kosten eingespart werden, dass gesellschaftlicher Mehrwert produziert wird.
Wie ist es, für ein Bundesministerium zu arbeiten?
Ich würde sagen, auf jeden Fall erst mal extrem anders. Ich bin total überrascht, wie hoch qualifiziert die Leute da sind. Viele Referentinnen und Referenten haben Doktortitel. Es sind so viele smarte Leute da, die auch so viel wegwuppen – das hat mich positiv überrascht.
Eine Herausforderung ist für mich tatsächlich, dass alles sehr prozessorientiert ist und dass es eine starke Hierarchie gibt. Ich persönlich habe mir immer schwergetan mit Prozessen und tue es heute noch ein wenig. Aber dafür habe ich auch einen Stab, der mich hierbei tatkräftig unterstützt, die internen Abläufe organisiert und so weiter.
Generell werden die Probleme ein bisschen anders gelöst. Eine Bundesbehörde ist natürlich kein kleines, sehr schnell agierendes Start-up. Die Mühlen mahlen etwas langsamer, aber auch sehr professionell und das bringt dann wiederum andere Vorteile mit sich.
Sie haben außerdem 2016 ein Start-up gegründet, socialbee. Was genau macht Ihr Unternehmen socialbee?
Als NonProfit-Organisation bringen wir Unternehmen und geflüchtete Menschen nachhaltig zusammen. Wir helfen Unternehmen, Geflüchtete einzustellen und zu integrieren – einfach und unbürokratisch – und helfen Geflüchteten gleichzeitig durch Weiterbildungen und individuell betreute Jobvermittlungen bei ihrem Neustart in eine Karriere. Damit schaffen wir es, dass statt Arbeitskräftemangel langfristig Jobperspektiven in Deutschland, der Schweiz und Österreich geschaffen werden.
Dafür arbeiten wir mit DAX-Konzernen genauso wie mit kleinen Familienunternehmen zusammen. Besonders unsere Qualifizierungsprojekte schaffen neue Perspektiven, so bilden wir beispielsweise 20 geflüchtete Frauen zu Pflegehelferinnen innerhalb von vier Monaten in Berlin aus. Oder ermöglichen für 20 Geflüchtete einen Einstieg im Solarbereich. Aber auch in der Logistik, im Retail oder in höher qualifizierten Jobs ist die Nachfrage groß. Wir qualifizieren und unsere Partnerfirmen stellen anschließend ausgebildete Talente als neue Kolleg*innen in ihrem Betrieb ein. Ein Win-Win für alle, da nicht nur neue Jobs für Arbeitssuchende geschaffen werden, sondern gleichzeitig dem Fachkräftemangel gegengewirkt wird. Und es läuft sehr erfolgreich. Dieses Jahr planen wir, etwas mehr als 400 Menschen zu integrieren, mit einem Team bei socialbee, das mittlerweile auch sehr stark auf über 50 Mitarbeiter*innen gewachsen ist. Wachstum, diese neu geschaffenen Perspektiven und der positive Einfluss auf Chancengerechtigkeit, das zeichnet unseren Impact aus und macht uns sehr glücklich.
Hoffentlich kann ich in der Hinsicht auch in meiner Rolle als Beauftragte viel zurückgeben. Denn meine Anfangsschwierigkeiten waren schon heftig.
Zarah Bruhn
Gab es Hürden oder Steine, die Ihnen da in den Weg gelegt worden sind?
Das war natürlich irre schwer am Anfang. Ich selber habe BWL studiert, hatte erstmal keinen persönlichen Bezug zu Geflüchteten. Aber schon 2015 habe ich den Bedarf für langfristige, systemische Unterstützung und Innovation gesehen und mich einfach gefragt: „Wer macht das, wenn ich es nicht mache?“ Andere Leute hatten ja auch nicht viel mehr Erfahrung. Zunächst habe ich mich als Ehrenamtliche engagiert und währenddessen schnell gemerkt, dass alle Geflüchteten arbeiten wollten. Und Unternehmen möchten eigentlich gerne Geflüchtete einstellen, hatten aber oft Respekt vor potentiellen Hürden, sodass man ihnen vor allem die bürokratische Arbeit abnehmen muss. Viele Unternehmen sind prinzipiell offen, aber man muss ihnen die Bedenken nehmen. Ich würde sagen, dieser Motivator für die Unternehmen zu sein und da entsprechende Programme aufzusetzen, ist bis heute mein Ziel.
Zarah Bruhn ist Teil der „Top 100 Women for Diversity in 2023“. Die Kampagne des Diversitätsnetzwerks BeyondGenderAgenda zeichnet unter der Schirmherrschaft von Natalia Wörner Frauen aus, die sich für Vielfalt und Chancengerechtigkeit stark machen. Das Kampagnenmotiv zeigt 100 Frauen, die nicht nur selbst erfolgreich sind, sondern auch weiteren Frauen den Weg ebnen und sie auf diesem unterstützen.
Aber am Anfang war das alles sehr schwierig. Vor allem als ich selbst noch Studentin war und so viele bürokratischen Hürden vor mir hatte, die man alle allein lösen musste. Wir hatten damals überhaupt keinen Zugang zu Finanzierungen. Das erste Jahr haben wir uns quasi komplett nur mir privatem Kapital über Wasser gehalten.
Gerade Social Startups waren damals noch Neuland und kaum ein Thema. Jetzt, sieben Jahre später, boomt die Szene, was mich sehr glücklich macht – das hätte ich mir nicht träumen lassen. Hoffentlich kann ich in der Hinsicht auch in meiner Rolle als Beauftragte viel zurückgeben. Denn meine Anfangsschwierigkeiten waren schon heftig.
Wie sieht es in puncto Gleichberechtigung in der Start-up-Welt aus? Ist es eine Männer-dominierte Branche oder ist ein Wandel erkennbar?
Aktuell gibt es im klassischen Gründerbereich unter 20 Prozent Female Founders. Als ich 2015 angefangen habe, waren es sogar noch deutlich weniger. Wobei es damals schon Unterstützung für weibliche Gründerinnen gab, zwar noch nicht viel, aber erkennbar. Und das hat mir schon sehr geholfen. Ich war damals in einem Female-Mentoring-Programm und hatte eine Mentorin. Dennoch waren einige systemische Herausforderungen an der Tagesordnung, weil es natürlich wahnsinnig viele Männer gab, die mit guten Geschäftsmodellen und sehr selbstbewusst, sehr bold [Anm. d. Red. mutig], sehr große Geschichten erzählt haben. Ich habe mir dann immer gesagt „okay, da muss ich mich durchsetzen. Ich erzähle einfach, ich stapel nicht mehr tief“. Ich habe angefangen, meine Ideen aktiver zu präsentieren und zu vermarkten. Das waren schon Dinge, die ich von meinen männlichen Kollegen übernommen habe. Am Ende gelang das durch permanentes Üben und Investieren in meine eigenen Sale-Skills.
Worauf ich aber besonders stolz drauf bin, ist, dass es im Sozialunternehmensbereich mittlerweile eine 50/50-Aufteilung gibt. Inzwischen gründen genauso viele Frauen wie Männer. Es ist schön, dass wir mittlerweile eine Art Gleichberechtigung haben im Bereich Sozialunternehmertum. Auch ein Grund mehr, warum ich dafür brenne und das Thema groß machen will. Neben dem, dass natürlich unsere gesellschaftlichen Probleme in Angriff genommen werden, ist es sehr inklusiv.
Und gesellschaftliche Probleme gibt es ja leider ganz schön viele. Vom Klimawandel bis zur Geflüchteten-Krise. Wie geht man da ein spezifisches Thema an?
Genau das ist die Herausforderung. Wir versuchen natürlich die Themenfelder zu definieren, aber es gibt einfach sehr viele gesellschaftliche Herausforderungen. Der Klimawandel ist omnipräsent. Aber auch Altersarmut, gesellschaftliche Teilhabe, Integration – das sind definitiv große Themen. Dazu kommen häusliche Gewalt, Suchtprävention und so viel mehr. Es gibt so viele gesellschaftliche Bereiche, die wichtig sind. Von daher würde ich mir nicht anmaßen, eine Priorisierung festzulegen. Im Prinzip möchte ich die Leute motivieren und sie auffordern, sich Gedanken zu machen, in dem ich sage: „Okay, an was arbeitet ihr eigentlich und könnt ihr nicht zumindest in eurer Arbeit ein gesellschaftliches Thema stärker aufnehmen?“ Oder wollt ihr nicht Organisationen mit einer sehr starken Mission unterstützen und als Volunteer oder in Vollzeit mitarbeiten?
Wenn wir es schaffen, dass diese Themen eine attraktive Karrierealternative werden, würde das schon enorm helfen. Denn ich glaube, oft ist es immer noch so, dass viele denken „ja, ich verdiene mein Geld da in der Firma und nebenher mache ich ein bisschen ehrenamtlich“. Aber wir brauchen viel mehr Engagierte, die mit ihrer kompletten Wirtschaftsleistung, mit ihrem kompletten Fokus dahinterstehen und das Ganze vorantreiben.
Am Ende bringt es nichts, wenn ein Unternehmen sehr hohen Profit macht, aber auf Kosten von Umwelt und Gesellschaft arbeitet.
Zarah Bruhn
Ist das auch ein Punkt, den Sie als Beauftragte angehen wollen, dass die Wertschätzung in Form von einem ordentlichen Gehalt in einem Start-up realisiert wird?
Die Wertschätzung können wir durch – und das ist einer der größten Forschungsschwerpunkte, den ich auch sehr stark vorantreibe – das Thema Wirkungsmessung viel stärker lösen. Aktuell ist es immer so: Es gibt einen financial return, also Umsatz, den man macht, und dann macht man auch mal irgendwie nette soziale Sachen on top. Aber was die Sozialunternehmen tatsächlich an Kosten einsparen, sei es in CO₂-Einsparungen, sei es in Sozialleistungen, sei es in gesellschaftlicher Teilhabe beziehungsweise an gesellschaftlichem Mehrwert schaffen, das ist nicht so einfach zu messen. Wir konnten zum Beispiel bei socialbee für den Staat 12 Millionen Euro an Integrationsleistungen einsparen. Das ist ein social return, denn diese 12 Millionen gehen ja nicht an socialbee zurück.
Daher muss es andere Wege und Systeme geben, um zu gucken: Wer zahlt für eingespartes CO₂, wer zahlt für eingesparte Integrationskosten etc.? Also die Wirkung messen und Abnehmer finden, die das auch mit einpreisen. Am Ende bringt es nichts, wenn ein Unternehmen sehr hohen Profit macht, aber auf Kosten von Umwelt und Gesellschaft arbeitet. Ich glaube, diese Wertetrennung zwischen finanziellem und sozialem Gewinn aufzuheben, wird ein Riesenthema.
Apropos Riesenthema: An was arbeiten Sie gerade? Als Unternehmerin, aber auch als Beauftragte der Bundesregierung?
Als Beauftragte arbeite ich derzeit an einer Strategie für Soziale Innovationen und gemeinwohlorientierte Unternehmen. Gemeinsam mit dem BMWK, also dem Wirtschaftsministerium beziehen wir dazu die anderen Bundesministerien ein. Das wird die erste nationale Strategie für das Thema Soziale Innovationen und Sozialunternehmen – auf politischer Ebene ein Meilenstein.
Mein zweites Thema ist, Finanzierungsinstrumente, Social Impact Funds und Co. zu definieren. Außerdem arbeiten wir gerade an einer Mobilisierung von Studierenden an Hochschulen für das Thema Social Entrepreneurship und Soziale Innovationen.
Und dann gibt es noch die DATI, die Deutsche Agentur für Transfer und Innovation, die in diesem Jahr gegründet werden soll. Diese Innovationsagentur wird ein sehr starkes Instrument der Bundesregierung für die Forschungs- und auch Start-up-Szene, für die Förderung von Sozialen und technologischen Innovationen. Und dafür überlege ich gerade, wie Soziale Innovationen gegenüber klassischen technologischen Innovationen adäquat bewertet und gefördert werden können.
Was möchten Sie jungen Gründerinnen und Gründern mit auf den Weg geben?
Vernetzt Euch! Sucht Mitstreiter*innen. Es gibt so viele Social-Impact-Gründerzentren und Förderformate, auch an den Unis und Hochschulen. Bei so vielen Anlaufstellen findet man auch immer Leute, die von solchen Themen begeistert sind. Es ist oft so, dass man alleine vor sich hin köchelt und eine Idee hat, aber am Ende macht es erst richtig viel Spaß und wird cool, wenn man das mit jemandem teilt, der genauso begeistert ist. Wenn man sich in diesen Szenen bewegt, lernt man auch viel und findet auch die richtigen Leute.
Der zweite Tipp ist: Alle kochen nur mit Wasser. Die Start-up-Welt kann einschüchternd sein und ich merke schon, dass sehr viele Menschen glorifiziert, teilweise auf ein Podest gestellt werden. Das würde ich gerne entkräften und entglorifizieren. Stattdessen möchte ich allen mitgeben: Hey, das kann eigentlich jede und jeder schaffen, die/der sich richtig reinhängt, ein gutes Geschäftsmodell entwickelt und sich ein gesellschaftliches Problem vornimmt.
Ansonsten: Nur Mut! Wir müssen einfach den Mut aufbringen, etwas auszuprobieren und zu machen. Auch wenn man auf die Nase fällt. Obwohl es in meinen Augen eigentlich kein Scheitern gibt, weil man immer etwas lernt, einfach durch „Learning by Doing“. Das hört sich immer so platt an, aber es ist so.
Bildquelle: Hans-Joachim Rickel