Bücher lesen, Briefe schreiben – für viele von uns sind diese Dinge das normalste der Welt. Doch wusstest du, dass 1 von 5 Kindern unter einer Legasthenie leidet, also einer sogenannten Lese- und Rechtschreibschwäche? Samantha Merlivat, Finalistin beim Digital Female Leader Award, hat mit „GoLexic“ nun eine App entwickelt, die Eltern und Kindern bei genau diesem Problem helfen soll.
Jedes 5. Kind leidet an einer Leseschwäche oder Legasthenie! Doch auf Hilfe warten die betroffenen Kinder oft jahrelang. Die Eltern? Völlig überfordert. 95 % der Eltern mit einem Kind, das Legasthenie hat, geben an, dass sie weder über die Mittel noch eine spezielle Ausbildung oder das Wissen verfügen, um ihrem Kind angemessen zu Hause zu helfen. Die Folge: Die akademischen Ziele, Karrierepläne und Zukunftsaussichten der Kinder wanken, das Selbstwertgefühl leidet und das seelische Wohlbefinden schrumpft auf einen Tiefpunkt.
Doch genau da kommt die App „GoLexic“ von Samantha Merlivat ins Spiel. Denn die soll einen innovativen, flexiblen und bezahlbaren Weg für jede Familie, einen sofortigen Zugang zu einem effektiven Programm bieten und betroffenen Kindern bei ihrer Leseschwäche helfen. Wir haben mit Samantha über ihre Idee gesprochen und sie gefragt, wie sie auf dieses wichtige Thema gekommen ist. Aber vor allen Dingen darüber, wie wichtig es ist, die Stärken und Schwächen des eigenen Kindes zu erkennen.
desired: Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie geht davon aus, dass in Deutschland rund 4 Prozent der Schüler von einer Legasthenie betroffen sind. Wie bist du selbst auf dieses wichtige Thema gekommen? Woher kam die Idee für deine Lernapp „GoLexic“?
Samantha Merlivat: Das Thema begleitet mich schon mein Leben lang. Denn mein Bruder ist Legastheniker und ich habe gesehen, was für ein Kampf es für ein Kind (und seine Eltern) sein kann, Unterstützung zu bekommen und die verschiedensten Schulen auf der Suche nach Hilfe zu durchlaufen. Die Arbeit meiner Mutter war meine Inspiration! Sie hat ihr Leben der Unterstützung anderer Eltern und Kinder gewidmet, die mit Alphabetisierung zu kämpfen haben.
Ich denke, es ist wichtig zu verstehen, was es wirklich bedeutet, Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben zu haben. Seit ich „GoLexic“ gestartet habe, ist mir aufgefallen, dass jeder, mit dem ich über unsere App spreche, jemanden kennt, der von solchen Herausforderungen betroffen ist. Sei es ein Familienmitglied oder ein Freund! Oft mussten diese Monate oder sogar Jahre auf eine Diagnose oder einen Termin bei einem Spezialisten warten. Das ist das Problem, das ich lösen wollte, und so war Idee für die App geboren.
Worin liegen deiner Meinung nach die Ursachen für die Schwierigkeiten beim Lesenlernen?
Wissenschaftler versuchen immer noch herauszufinden, was diese Schwierigkeiten verursacht. Die meisten Untersuchungen legen nahe, dass Legasthenie eine Neurodiversität ist, die die Fähigkeit des Gehirns beeinträchtigt, bestimmte Aspekte der Sprache – insbesondere die geschriebene Sprache – zu verarbeiten.
Für mich war es immer wichtiger, darüber zu sprechen, was es nicht ist: Es ist kein Defizit an Intelligenz und es geht nicht darum, faul zu sein oder im Unterricht nicht aufzupassen. Tatsächlich brauchen diese Kinder eine enorme Menge an Energie und Aufmerksamkeit, um zu lernen und zu versuchen, im Unterricht mitzuhalten. Aus meiner Sicht ist es auch keine Behinderung. Diese Begriffe werden diesen Kindern und ihren Fähigkeiten nicht gerecht. Wir sollten darauf achten, ein Kind nicht anhand seiner Leseschwierigkeiten zu definieren. Es ist eine besondere Schwierigkeit, und diese Schwierigkeit kann überwunden werden.
Selbst Experten sind sich unsicher, inwiefern die sozialen Einflüsse und zum Beispiel ein hoher Fernsehkonsum Schuld an einer Leseschwäche sind. Laut einer Studie lesen rund 32 Prozent der Eltern in Deutschland ihren Kindern selten oder nie vor. Sind das für dich entscheidende Faktoren, dass die Kinder immer schwerer Lesen lernen?
Es gibt eine Reihe von Faktoren, die sich auf die Entwicklung von Lese- und Schreibfähigkeiten für Kinder auswirken können. Eltern sollten sich auf jeden Fall bewusst sein, dass das Sehen von Büchern im Haus oder das Lesen von Eltern zu Hause eine positive Einstellung zum Lesen entwickelt. Das Lesen mit den Eltern hilft dabei, die Dekodierungsfähigkeiten und den Wortschatz der Kinder zu entwickeln, die wichtige Komponenten beim Lesenlernen sind.
Legasthenie wird jedoch kaum von sozialen Einflüssen verursacht. Tatsächlich sind die Raten von Legasthenikern in verschiedenen Ländern, Sprachen und sozioökonomischen Verhältnissen bemerkenswert ähnlich. Die Fähigkeit, es zu erkennen und zu adressieren, ist jedoch sehr unterschiedlich. Dies kann den Eindruck erwecken, dass bestimmte Gruppen stärker betroffen sind als andere.
„Legasthenie ist kein Defizit an Intelligenz und es geht auch nicht darum, faul zu sein oder im Unterricht nicht aufzupassen!“
Worauf genau sollten Eltern denn bei ihren Kindern achten? Was empfiehlst du ihnen für Schritte, wenn sie den Verdacht haben, ihr Kind leide an einer Leseschwäche?
In der Regel gibt es bestimmte Anzeichen, die viele Kindern mit Leseschwierigkeiten gemeinsam haben: Zögern beim Lesen, Lesen und Sprechen von verwirrenden Buchstaben, Wörter erraten oder Wörter lesen, die nicht im Text enthalten sind oder gar Wörter rückwärts schreiben und lesen. Es ist jedoch wichtig zu bedenken, dass diese Anzeichen auch auftreten können, wenn Kinder noch lesen lernen. Ich empfehle daher allen Eltern, die Schwierigkeiten bei ihren Kinder bemerken, zunächst mit einem Lehrer oder Arzt zu sprechen.
Glaubst du, dass das deutsche Gesundheitssystem die Schwächen der Kinder erst zu spät erkennt? Könnte eine verlangsamte Sprachentwicklung oder wenig Interesse an Buchstaben vielleicht sogar bereits im Kindergarten festgestellt werden?
Deutschland hat bereits wichtige Schritte unternommen! Beispielsweise gibt es in jeder Grundschule mindestens einen speziell ausgebildeten Lehrer, der Leseschwächen identifizieren soll. Natürlich hilft es, Leseschwierigkeiten frühzeitig anzugehen, aber ich denke, es ist auch wichtig, Kindern ihre Zeit zu geben sich zu entwickeln. Gerade im Kindergartenalter kann es signifikante Unterschiede in Reife und Entwicklung zwischen einem Kind im Alter von 4 Jahren und einem Kind im Alter von 4 Jahren und 10 Monaten geben.
Nach unserer Erfahrung und aus unserer Arbeit mit Experten für Sprachkorrektur und Psycholinguistik gehen wir von einem Alter von 6 bis 7 Jahren als dem Alter aus, in dem Schwierigkeiten gezielt angegangen werden sollten, wenn sie bestehen bleiben. Deshalb empfehlen wir unsere App für Kinder ab 6 Jahren.
„Wir sollten darauf achten, ein Kind nicht anhand seiner Leseschwierigkeiten zu definieren. Es ist eine besondere Schwierigkeit, und diese Schwierigkeit kann überwunden werden.“
Samantha Merlivat
In den meisten Fällen bedeutet Legasthenie für die Kinder vor allen Dingen ein reduziertes Selbstwertgefühl. Was empfiehlst du, Eltern in diesem Fall zu machen? Und zielt deine App „GoLexic“ auch darauf ab, den Kindern spielerisch wieder Mut zu machen?
Für mich ist dies eines der großen unausgesprochenen Probleme bei einer Legasthenie. In Großbritannien gibt es Studien, die zeigen, dass 88% der legasthenen Kinder unter einem geringen Selbstwertgefühl leiden. Viele wissen nicht genau, was es für ein Kind bedeutet, mit 7, 10 oder 14 Jahren nicht richtig lesen und schreiben zu können. Es verhindert, dass sie in anderen Fächern gut abschneiden, da so viel Lernen Leseverständnis erfordert. Sie wissen, dass sie bei ihrem Test schlechte Noten bekommen, egal wie viele Stunden sie zu Hause bei ihren Eltern studieren.
Daher war es uns absolut wichtig, dass wir bei „GoLexic“ das Selbstwertgefühl der Kinder stärken. Wir sind uns sehr bewusst, wie wir Feedback geben, wir setzen viel positive Bestärkung ein und stellen sicher, dass der Schwierigkeitsgrad immer erreichbar ist, basierend auf den Fähigkeiten des Kindes. Wir möchten sicherstellen, dass Kinder verstehen, dass sie nicht getestet werden: Sie trainieren. Das Programm muss positiv, ermutigend und motivierend sein. Verspieltheit ist also wichtig, aber wir müssen auch darauf achten, dass die ganze App nicht zu einem Spiel wird. Aus diesem Grund beschränken wir unsere Sitzungen auf 15 Minuten, um den Aufwand zu begrenzen und gleichzeitig den Effekt zu maximieren. Nur so können wir den Kindern und ihren Eltern wirklich helfen!
Danke für das spannende Interview!
Samantha Merlivat ist in diesem Jahr übrigens Finalistin beim „Digital Female Leader Award"! Mit dem Award, der von Global Digital Women ins Leben gerufen wurde, werden jedes Jahr Frauen in der Digitalwirtschaft für ihre besonderen Projekte ausgezeichnet. Ziel ist es, Frauen mehr Sichtbarkeit in der Branche zu geben, ihre Geschichten zu erzählen und dadurch auch andere zu inspirieren und motivieren. Weitere spannende Interviews mit inspirierenden Frauen findest du in unserer Themenreihe „empowHER":
Bildquelle: Digital Female Leader Award; Unsplash / Josh Applegate / Feliphe Schiarolli